Sonntag, 5. August 2012
Lola pennt, der Glücksritter und Somalias hübsche Töchter.
Den tätowierten Spruch der Frau kann ich nicht lesen. Anfang und Ende fehlen, weil ihr T-Shirt darüber liegt. Ich frage mich ernsthaft, wie Frauen es schaffen dass sie halb eingerollt auf zwei Zugsitzen schlafen können.
Halb unter den Sitz geschoben schläft ein kniehoher Hund mit angegrauten Haarspitzen.
Das Tier trägt etwas um den schmalen Körper geschnallt, was wie die Weste eines Wassersportlers aussieht. Gähnend widme ich wieder der Olympiabeilage der Zeitung. Und versuche eine letztes Mal den Spruch in der Haut der Liegenden zu lesen. No chance.
Der Fellträger zuckt im Schlaf, so als würde man kurz vor dem Abtreten ins Reich der Träume sein. Dieses Gefühl des Fallens.
Beim genaueren Hinsehen fällt mir auf, dass der vierbeinige Begleiter der Frau das bodennahe Auge geöffnet hat, und mich aus dem schattigen Halbdunkel beobachtet.
Zwei Frauen setzen sich mir direkt gegenüber. Wie bildschön sie sind, fällt mir erst auf, als ich aus der Zeitung hochsehe. Das olympische Feuer wurde auf der Themse auf einem Schiff der Royales entlang geschippert, lese ich.
Die beiden Freundinnen unterhalten sich miteinander und gucken mich dabei an.
Lola hat jetzt auch das andere Auge geöffnet und den Spielraum der Leine völlig ausgeschöpft.
Frauchen wacht auf und zieht den Hund an der Leine zurück.
Näselnd ist der Hund in Richtung des Hamburgers getrippelt, den eine der beiden Frauen isst. Die andere lackiert sich die Fingernägel nach.
Figur top, Makeup top, überlege ich. Stimmig ist da alles.
Wer als Mann sagt, das er nur auf die inneren Werte achtet ist entweder grenzdebil, hat ein schlechtes Sehvermögen oder ist mit dem Hinterkopf unsanft am Rand der Badewanne aufgekommen.
Frauen und Männer geben sich doch in dieser Hinsicht nichts.
Jetzt tritt Domenico auf den Plan. Gel mit Haaren, in der Reihenfolge. Die Knopfleiste des rosa Hemdes lässig bis zum Brusthaar geöffnet. Dort wo es am dichtesten ist.
Er gräbt aus einer Tasche eine goldene Uhr aus. Die wird theatralisch ums Handgelenk gelegt. Breitbeinig fläzt er sich auf den Sitz. Gegenüber der Frau mit dem Hund. Ein Zug an der Leine lässt den Schachtelwirt - Leckerbissen für Lola in unerreichbare Ferne rücken.
Die Frau bestaunt ihre frisch lackierten Fingernägel und lächelt mich an.
„Kannst du mir bitte mit dem Armband helfen? Ich kriege das so schwer zu!“ Die Hundefrau ist hilfsbereit und schließt das Goldarmband am anderen Handgelenk.
Eine billigere Anmache gibt’s ja kaum. Die wird nur übertroffen von: „Na, du auch hier!?“
„Da bist du aber mit zwei sehr hübschen Frauen unterwegs!“ Er zwinkert mir zu.
„Guten Abend, die Fahrkarten bitte!“ Der Zugbegleiter kommt durch den Gang. Er bleibt bei der Frau mit dem Hund stehen. Sie reicht ihm ihre Karte. Er zeigt auf den Hund. „Und seine Karte!?“ – „Wie!?“ Die Stimme der Frau zittert leicht.
„Sie brauchen eine Fahrkarte für den Hund!“ Und es entspinnt sich eine Diskussion, über Tiere die kostenlos in einem Transportkasten mitgeführt werden dürfen.
„Bitte…“, beginnt der Mann, im Vierer der Hundebesitzerin, einen Satz an den Zugbegleiter.
„Sie sind ruhig!“, schnauzt dieser ihn an. Ich stecke die Zeitung weg und überlege mir, wie ich der Frau helfen könnte.
Natürlich will die Bahn auch Geld für tierisches Fleischgewicht. Da reichen die Passagiere nicht aus, die wie oft an Bahnhöfen versauern, weil ihr fucking Zug nicht kommt, zumindest nicht mehr in diesem irdischen Leben.
Und mir fallen die Zugbegleiter ein, die sich in ihrem Dienstabteil eingeschlossen hatten, weil sie die Armen waren, die Dienst im Ersatzzug des Ersatzzuges hatten. Und das bei gefühlten 40°C im ICE, mit 1000 Stunden Verspätung.
Die haben fünf gerade sein lassen und auf die Fahrkartenkontrollen verzichtet. Ich habe nichts gegen die Bahn. Im Gegenteil.
Ohne das Quietschen der Räder auf den Gleisen wäre mein Leben weniger bunt. Es gäbe weniger zu schreiben.
„Ich belehre Sie jetzt, bezüglich der Beförderungsbedingungen… Kinderkarte… Waben, die Sie fahren…. Schachtelgröße….“
Wie kann einem so einer dabei abgehen, wenn man von Vorschriftsgedöns labert und den Konsequenzen? Die Wollust steht dem Uniformträger schon in der Stimme. Ich warte schon darauf, dass er sein Eintippdingens zückt. Aber der Zugbegleiter belässt es bei der deutlichen Ansage.
„Typisch Bürokratie!“, sagt der Italiener, der sich als Domenico vorstellt. „In Ecuador oder anderswo würde es keine Menschenseele stören, wenn du dein Schwein mit auf Reisen nimmst und mit in oder auf den Bus packst!“, sage ich und alle lachen.
Der Mann mit der goldenen Uhr ist Inhaber einer Schmuckgeschäfts, das eine der beiden Afrikanerinnen kennt. Sie kommen aus Somalia. Eine der beiden frischt mein Geographie – Wissen auf. „Somalia ist hier“, sie malt es unsichtbar ans Zugfenster. „Und hier ist Wasser!“, dort das Horn von Afrika ein lackierter Fingernagel klopft ans Zugfenster.
Domenico will unbedingt nach Madagaskar, weil er gehört haben will dass man dort ein Stück Land kaufen könne, um nach Gold zu suchen. Seine Augen glitzern, während wir auf der Fensterlandkarte versuchen zu bestimmen, wo denn genau die Insel liegt.
Eine sagt im Pazifik. Ich tippe eher auf den Indischen Ozean.
Schon bald entfacht ein lebhaftes Gespräch über die Rohstoffausbeutung, in eigentlich reichen Ländern, in denen die Menschen tatsächlich bettelarm sind.
Lolas Besitzerin regt sich über diese Ungerechtigkeit auf. Zu Recht. Domenico steigt aus und verschwindet in die Nacht. Ein neuer Zugbegleiter läuft durch den Zug. Ein Schwarzer. Er bleibt am Vierer von uns stehen. „Seid ihr schon von meinem Kollegen kontrolliert worden!?“
„Wir fahren schwarz!“, sagt die Fensterlandkartendeuterin. „Wir doch immer!“, lacht der Mann, zusammen mit uns vier Sitzenden. Lola schläft wieder.
Dann verlassen uns Lola und die hübsche Besitzerin. Der Hund wird zum Abschied nochmal von allen gestreichelt.
„Geht ihr in die Markthalle in Kaiserslautern?“, frage ich die beiden. Sie hatten erwähnt, dass sie in die Stadt wollen. Sie gucken mich perplex an.
„Woher weißt du das denn!?“ Ich habe geraten. Was nicht so schwer ist, wenn zwei im Partyoutfit, durchgestylt und einer Flasche Sekt im Zug sitzen und in die Richtung fahren.
„Willst du mit uns mitkommen?“, fragt eine. Die Freundin nickt erfreut und beide sehen mich erwartungsvoll an.
Eine gute Idee, aber ich hab morgen Dienst. „Sorry, aber das geht nicht!“ – „Oh, Schade!“
Sie drücken mich beide zum Abschied und winken mir hinterher, während sie auf ihren Zug warten.
Und ich lache in mich hinein, über diese Begegnungen im Zug.

Manolo Ramon // 5. August 2012

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Freitag, 27. April 2012
32.808 Fuß
von Manolo Ramon
für T.V.

„Der Zauber steckt immer im Detail.“
(Theodor Fontane)

Sie waren beide in Südfrankreich gewesen oder vielleicht ist es genauer, wenn ich dir schreibe, dass sie eigentlich zu dritt waren. Vielleicht wunderst du dich dass ich dir überhaupt schreibe, was das alles soll? Du kennst keinen Vince Yager, und ich kenne dich nicht, aber dennoch tippe ich dir diese Zeilen in den Laptop. Vielleicht hast du überhaupt keine Zeit zum Lesen, weil die Schule stresst oder der Job nervt? Vielleicht hast du gar keinen Bock auf andere Leute, willst einfach deine Ruhe? Dann wärst du so ähnlich wie Louis. Ich meine nicht genauso wie er, aber du würdest dich auf einer Party mit ihm verstehen und für ein, zwei und mehr Bier bei ihm stehen bleiben. Du würdest ihn schnell entdecken, er steht meistens erst etwas abseits, um sich dann ins Getümmel der Leute zu stürzen.
Louis überragt mich um einen halben Kopf, und ich bin schon nicht klein. Die Stimme des Freundes ist sehr tief, sie passt irgendwie so gar nicht zu der sonst hager wirkenden Gestalt.
Als ich den Freund zum ersten Mal sah, da röhrten bei einer Party die Bassröhren. Die vier Zimmer der Wohnung hätten wegen Überfüllung schon längst schließen können. Im Flur herrschte ein tanzwütiges Gedränge, an Enge und Leidenschaft kaum zu überbieten. Die Musik streichelte hämmernd meine Ohren, und legte sich pulsierend zwischen das Wabernde im Kopf. Dieses matte Gefühl zu vieler Drinks, und zu wenig kalter Würstchen und Chips. Lachende, rotverschwitzte Gesichter zogen vorbei. In der Wohnung stand der Geruch aus warmen Zigarettenrauch, Schweiß und Parfüm, fest wie ein Monolith.
Die Toilettentür widersetzte sich allen Öffnungsversuchen. Wahrscheinlich quälte sich dort drinnen jemand mit dem irgendwas ab, was ein schnelles Verlassen des Bades verhinderte. Ich wollte es nicht wissen, weil die Drinks ihren Tribut forderten. Mich interessierte auch nicht das heißere Flüstern und Kichern hinter der Tür. Es eilte, nach wenigen wackligen Schritten fand ich einen langen Balkon, auf der Seite, wo in der Ferne der schummrig erleuchtete Hafen lag. Es war eisig kalt, der Himmel lag dunkel über mir, während ich auf das Grundstückte pinkelte, was Bauschutt und Müll bedeckten. Irgendwo fiepte schrill eine Ratte.
„Man, scheiße, muss ich pissen!“, das waren die ersten Worte der Begegnung zwischen Louis und mir. Er hatte mich nicht entdeckt, stand still mit einem Stoßseufzer der Erleichterung am rostigen Geländer. Seine Augen schweiften über die frühmorgendliche Silhouette der tristen Fassaden, dann bemerkte er mich. Ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben, blickten wir uns an. Hättest du mich an dem frühen Morgen gefragt, ob der übernächtigte Typ mit den dichten Locken ein guter Kletterer sei, ich glaube dass ich ihn ungläubig gemustert hätte. Louis sah in seinem Schlabberlook aus, wie ein Reggae-Fan. Jemand der das Leben so sehr locker nimmt. In seinem linken Chuck war vorne ein Loch. Am Handgelenk baumelten das Eintrittsband eines Festivals und ein Lederbändchen mit kleinen Holzperlen und einer schimmernden, kleinen Muschel. Louis war so ein Mensch den ich belächelte, ein Schluri, der sich durchs Leben lavierte und bei dem es den Begriff Ernst ganz sicher nicht mal im passiven Wortschatz geben konnte.
Wahrscheinlich hätte Louis ohne langes Nachdenken über mich auf einen Papierfetzen gekritzelt:

- Arschgelecktes Akademiker-Söhnchen

- Liest die financial times

- Konservativ bis zum Abwinken

- Will ganz sicher Jura studieren

- Musik: …, wenn überhaupt: Klassik und Oper!!!

- Freundin: blonder Pferdeschwanz, blaue Augen, Perlenkette und passende
Ohrringe.

- Sieht aus wie Gustav Gans, in jung, nur als Mensch.
Ich könnte Skifahren und meine Lieblingsurlaubsorte wären Südfrankreich und die Schweiz. Meine steinreichen Großeltern könnten nachts nicht schlafen, weil sie an ihre lachend an ihre Konten denken würden. Ich fände Politiker mit Zahnpasta-Lächeln und Gel in den Frisuren toll. Wie sollte ich ihm böse sein!? Dem Schluri, dem ich die Hand reichte, während wir auf dem Balkon standen. Ich fing seinen prüfendendmissbilligenden Blick auf, der meine Gelfrisur, den grauen Wollpulli, Blue-Jeans und Segelschuhe musterte. „Oh, schickes Poloshirt!“, sagte Louis, meinen Kragen anstarrend. Sein Blick ruhte irgendwo ganz weit weg, nicht hier. Innerlich regte sich in mir der Verdacht, dass mein Gegenüber gleich nach einer abwertenden Einschätzung wieder durch den Flur in Richtung Party laufen würde. Aus einem der offenen Fenster schallte das „Caminando por la calle“ der Gipsy Kings, unterlegt mit monotonen Trommelschlägen. Warum legte ich überhaupt Wert darauf, was der Typ von mir denken würde!?
Wir hatten uns vorgestellt. Ein breites Lachen hing leicht schief in Louis Gesicht, er schüttelte den Kopf, dann sagte er: „Man, du bist echt cool! Läufst in solchen Klamotten auf der Party rum, aber pisst schamlos vom Balkon!“ Das brach das Eis, während wir unter Lachen nach drinnen gingen, da wusste ich schon, dass wir beide auf dem guten Weg waren einen neuen Freund zu gewinnen.
Lange Rede, kurzer Sinn. Der Freund hätte nicht bei allem so richtig falsch gelegen, hätte es diesen Papierfetzen gegeben. Das ist viele Jahre her, wir waren beide gerade dabei an unserem Abi zu basteln. „Der Schluri“ machte sich voll Elan ans Medizinstudium und ich, ich begann Jura zu studieren, nicht um in Fußstapfen meines Vaters zu treten, sondern um die Welt ein bisschen besser zu machen. Ich wollte für die Rechtlosen auf dieser Welt antreten, mich für das Gute engagieren. Opa sah mich immer mit dem Blick eines Großinquisitors an, wenn ich ihm von meinen Plänen berichtete. Dem pensionierten Richter lagen meine Ideen ferner, als der Äquator. Ich habe ihn als strenggütigen Mann in Erinnerung. Mit hoher Stirn und klaren Augen, traurige leuchtendblaue Augen, unter den schmalen Brauen.

Ich weiß, dass mein Großvater in roter Robe das Recht vertrat, als Gesetze gegen und nicht für Menschen geschaffen wurden. Der Verstand meines Großvaters gleicht der Schärfe des Blicks eines Adlers. In seinem Geist jongliert er die Prüfschemata für Rechtsfälle. Alles lässt sich in juristische Formen pressen, so denkt Opa. Ich kenne ihn ja nicht anders. Heute reibe ich mich an seinem analytisch-präzisen Sachverstand. Mit Opa über seine Vergangenheit zu reden, das ist etwas, das überhaupt nicht geht, das habe ich in meiner rebellischen Jugend gemerkt. Da wären Themen wie Tod oder elendes Siechtum noch etwas, über das sich heiter an der Familientafel plaudern ließe.
„Das sind Opas dunkle Kammern, mein Schatz“, sagte Oma einmal zu mir, als sie mir zärtlich über den Kopf streichelte, mich an ihre warme Brust drückend. Opa war wegen einer Frage von mir in Rage geraten und hatte getobt. In ihm war innerlich ein Orkan losgebrochen. Für einen Augenblick schien es fast so, als würde der große, ruhige Mann die Contenance verlieren. „Vince“, begann er, neben Schreibtisch und Bücherregal stehend, „Vince, ich habe nie in meinem ganzen Leben einen Unschuldigen in den Tod geschickt!“, seine Unterlippe bebte und seine Pupillen flackerten. Er stand so verloren in dem hohen Raum mit den Stuckdecken. Der Chagall an der Wand. „Meine Schuld wiegt so schwer…“, gedankenverloren bildete der Mund seine Laute. Opas Schultern waren schlaff, seine Augen standen gefüllt voller Trauer, griffen mich aber nicht. Die Standuhr schlug dröhnend und Opa straffte sich wieder. Es roch nach gewienertem Parkett. Er versuchte ein zaghaftes Lächeln. „Es ist so, wie ich es gesagt habe. Hast du das verstanden!?“ Seine Kopfhaltung gab mir zu verstehen, dass das Gespräch beendet war. In wenigen Stunden würde mich Mama abholen kommen. Ich hatte verstanden. Ja, ich hatte verstanden.
Manchmal überlege ich mir, ob es wie ein riesiger Fluch auf mir liegen könnte, dass sich die Trauer von anderen Menschen vor mir ausbreitet, wie ein bunter Teppich auf einem Basar. Es ist der Blick hinter den Spiegel des anderen Menschen. Vielleicht ein ungewolltes Sezieren des Inneren? Ich kartiere die Seele eines anderen Menschen. Ich will mir selbst ein Bild meines Gegenüber machen. „Du hast einfach ein Rad ab“, sagt meine Freundin. Für solche Feststellungen jage ich die kreischende Blonde dann durch die Wohnung, was sie eher erfreut, als erschreckt.

Ich versuche immer das fantastische in Menschen zu entdecken, das hinter der Oberfläche liegt. Wenn ich dir schreibe, dass sich Louis wie ein Alpaka auf einer Party verhält, dann nur deshalb, weil ich ihn sehr gut kenne. Er nimmt Witterung auf und wägt ab. Ist er sicher, dann stürzt er sich ins Getümmel. Ich habe mit Louis zusammen so viel erlebt, wir haben ein dichtes Band zwischen unseren Leben geknüpft, über alle Verschiedenheit hinweg. Aus den beiden „Balkonpissern“ sind enge Freunde geworden, die gemeinsam Südamerika bereisten. Begeistert kochten und manche Weinflasche zusammen leerten. Ich bin als „Schluri“ mit ihm auf einem Reggae-Festival gewesen, und er war mit mir in der Oper. Reggae-Style unter dem Sakko. Wir haben die Mauern unserer Welten eingerissen und uns gegenseitig den Horizont geweitet. Ich habe gelernt, dass das Leben keine verbohrte Veranstaltung sein muss, wo jeder mit einem Stock im Arsch herumläuft, gierig aufs Geld schielt, mit dem Tunnelblick: mein Auto, mein Haus, mein Boot, meine Bilderbuch Familie…
Louis meinte einmal zu mir, dass sich im Leben so viel Schönes finden lassen würde. Es gäbe sicher mehr Dinge über die wir lachen könnten, als solche die uns das Herz schwer werden ließen. Wenn der Freund etwas hat, dann neben all seinen guten und weniger guten Eigenschaften, diesen besonderen Blick auf das Leben. Seine ganze Art hat etwas so erfrischendes und einnehmendes.
Er entspannt Situationen in denen ich Hasenfüße kriege durch ein entwaffnendes „Pass auf Digger, wir wollen hier keinen Stress!“, und, man glaubt es kaum, wir setzen unseren Weg durch den Kiez fort, mit allen Zähnen und heilen Knochen. Im Gegenzug zeige ich dem Freund etwas von meiner Welt. Ich sehe ihn noch staunend im Museum stehen. Er war angetan von den Fragmenten der Geschichte, die hinter dem Glas lagen.
Wir fanden immer gemeinsam einen Konsens. Ich kippte einen großen Schluck Cola in den französischen Rotwein und er aß feines Entrecôte, mit Mayo zwischen Brötchenhälften. Das war während einer unserer Reisen nach Südfrankreich. Kennst du das azurblaue Meer dort im Süden, den Charme der Hafenstädte und oh là là die Französinnen oder die Franzosen? Ich sehe uns noch dort unten sitzen, unter der brennenden französischen Sonne. Louis wollte nicht, dass ich ihm mit meiner Kreditkarte die Zugfahrkarte zurück bezahlte, weil er sein Ticket verloren hatte. Ich nannte ihn einen idiotischen Stierkopf, er schimpfte mich gestikulierend einen missionarischen Geldsack. Wir stritten lautstark direkt an der Kaimauer. Schließlich trampten wir gemeinsam zurück, zwei Freunde, wie Pech und Schwefel. Ich sehe noch die südfranzösische Sonne über uns. Sie gießt ihre Strahlen wie Honig über den Lavendelfeldern ausgießt.
Ich fühle die stickige Enge mancher Autos, die uns mitnahmen.
Wir machten schon Witze, dass wir uns später mal unsere Kinder mit gegenseitigen Versprechungen schicken wollten. Seine Racker würden mit großen Augen vor meiner Tür stehen, weil sie es kaum noch erwarten konnten, dass meine Familie mit ihnen all die teuren Sachen machen würde, die ihr Vater versprochen hatte. Eis so viel sie wollten, gemäß des Mottos: „Was nix kostet, kann nicht gut sein!“.
Meine Blagen würden wahrscheinlich nicht nur von den Reggae-Festivals und der chilligen Musik große Augen bekommen, die der alte Freund sicher auch als Arzt nicht missen wollen würde. Meine Frau würde wegen des unverantwortlichen Handelns mit dem Scheidungsanwalt drohen. Sie zetert laut herum, und fährt dann mit den Kindern zu ihrer Mutter. Es könnte aber auch sehr viel schöner kommen, dass wünsche ich allen Beteiligten.
Wenn ich hier heute sitze und durch meine dicken Mappen blättere, die ein riesen Regal füllen, wenn ich all die Texte lese, die nichts mit juristischen Fällen zu tun haben, keine Aktenzeichen tragen, dann denke ich über die Texte nach die mir die Fantasie geholfen hat zu schreiben. Ich habe nie einen Text über mich selbst geschrieben, es waren vielleicht Teile meines Lebens enthalten, in den Kurzgeschichten. Meine Freunde sind es gewesen, die mich über das Leben haben nachdenken lassen.
Über Begegnungen, die Liebe, das Gefühl der Verlassen – Seins, über Lachen und Weinen. Vielleicht ist mein Blick auf die Menschen die mich umgeben auch der Blick auf mich selbst. So wird es sein. „Schreib auch einmal eine Geschichte über mich! Aber nicht jetzt.“, diesen Auftrag des Freundes habe ich nicht vergessen. Für meinen Freund zählt der Augenblick, den will er genießen und auskosten. Weshalb solle über etwas geschrieben werden, das gerade schön-geil sei? Die Worte auf dem Papier sollte man sich lieber aufsparen. Es sind meine Freunde gewesen die mich über das Leben haben nachdenken lassen. Über Begegnungen, die Liebe, das Gefühl des Verlassen-Seins, über Lachen und Weinen. In den Gesichtern meiner Freunde sah ich oft das Gefühl des Zweifelns, spürte die Zerrissenheit tief in mir drin, wie ein Schluck zu heißen Tees. Sie haben die Fragen angerührt, warum ich etwas mache, wo die Motivation liegt.
Liegt sie draußen, weil ich der Jurist werden will, den Großvater und Papa gerne sehen würden, oder ist es mein eigener Wunsch, der sehr, sehr viel schwerer wiegt. Der Austausch zwischen Louis und mir ist ein sehr unbefangener, ich weiß was ihn in der Seele bewegt. Er weiß es bei mir.
Keiner meiner Freunde steht mir näher. Ich kann es nicht leugnen, dass er mir erst etwas befremdlich vorkam. Es war wie an einer Stelle in „Der Kleine Prinz“, ein Buch das wir beide kannten. Es ist die Stelle an der sich der kleine Prinz und der Fuchs zum ersten Mal begegnen. Die Sprache sei die Quelle der Missverständnisse, kann es sein, dass Louis und ich deshalb damals unsere Vorurteile für uns behielten, als wir uns auf dem Balkon trafen?

Ich will dir etwas über die Verrücktheit des Lebens schreiben, über die Zufälle, bei denen sich selbst Gott nachdenklich an der Stirn kratzen würde, wenn es ihn gibt und Er (oder Sie?) nicht auf Dauerurlaub ist. Es sind die Situationen in denen uns das Gute widerfährt, jemand uns anlächelt oder uns die Liebe das Herz puckern lässt. Es ist das Banale des Lebens. Die Würze unserer Existenz. Ich meine gute Zufälle, die uns innerlich froh machen, die unsere Seele wärmen; was den zufälligen Blick des Lehrers schon ausschließt, während wir gerade anteilnehmen, am Klausurwissen des Nachbarn. Das schließt auch Fettnäpfchen und Fritteusen Sprünge aus, die ganzen Jauchebäder, die das Leben so bereit hält.
Wie kann ich bei meinen Kindern dafür sorgen, dass sie keine verbitterten Menschen werden, die in einer Diktatur dafür sorgen, dass dem „Recht“ Geltung verschafft wird? Wahrscheinlich am ehesten dadurch, dass ich ihnen meine Liebe zum Leben vorlebe. Das schließt nicht aus, dass es hin und wieder gehörig „Scheiße laufen kann“, wie Louis sagen würde. Ich glaube dass ich meine Kinder am Leben von Louis teilhaben lassen würde, dass ihnen so ein austarieren gelingen würde. Alle Menschen wollen Sicherheit in ihrem Leben und mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen, der ihnen die Welt bedeutet. Louis hat etwas von dem weitergegeben, was ich als Elixier des Lebens bezeichnen würde. Er teilt seine Freundschaft mit mir.
Wir tangieren so viele Leben anderer Menschen, aber wir schreiben zu wenig darüber, weil wir keine Zeit haben oder weil uns diese Begegnungen egal sind, und wir im Trott des Lebens schwimmen.

Wir verlieren im Laufe unseres Lebens die Fähigkeit uns zu wundern. Das sehe ich heute so. Wie Einsiedlerkrebse rasen viele durch ihre Leben, die so einzigartig und schön sind, immer auf der Suche nach einem neuen Gehäuse in das sie sich zwängen können. Wenn ich an das Wunderbare glaube, dann bin ich kein Idiot, sondern ein Mensch der dem Leben zugewandt ist. Louis und ich haben neben allem was wir als Freunde taten nie vergessen, was Antoine de Saint Exupéry, uns durch seinen Protagonisten mitzuteilen versuchte, denen die es hören wollten. Wir stapften gemeinsam über mückenschwirrende Pfade in Panama, schliefen in kargen Hostels und aßen Pfannkuchen mit Sirup und frischen Bananenstücken. Louis und ich rannten durch den TGV in Frankreich, als in einem Wagen ein medizinischer Notfall aufgetreten war und aus dem Lautsprecher, mehrmals eindringlich, der Ruf nach Hilfe plärrte. Da knieten wir zwei zwischen den Sitzreihen und bemühten uns, dass das Herz einer alten Dame wieder schlug. Uns rann der Schweiß, daran erinnere ich mich. Im Waggon herrschte fast eine raumfüllende Stille, nur eine Frau betete halblaut.

Neben unserem ehrenamtlichen Tun in unserer Freizeit half uns, dass die Franzosen in ihrem Schnellzug einen automatischen Defibrillator und einen gut ausgestatteten Notfallrucksack vorhielten. Was könnte der schönere Beginn einer langen Wandertour sein, als das Retten eines Lebens?
Wir versprachen uns gegenseitig, dass wir unseren Kindern voneinander erzählen wollten, hatten ja schon geplant, dass wir sie beim anderen in den Ferien parken würden. Dass unsere Freundschaft sehr schwer wog, dass wussten wir. Es gab damals keine Kristallkugel in die wir hätten sehen wollen, was uns die Zukunft bringt. Wir schlürften das Leben in vollen Zügen, standen am Beginn unseres Studentenlebens. Mehr oder minder zerrieben wir uns in unserem Studium. Ich paukte Paragraphen und Prüfschemata für juristische Sachverhalte, saß spätnachts in der Unibibliothek. Mein Kopf war zum Bersten gefüllt mit Worthülsen und Beamtendeutsch. Louis versackte hinter seinen Anatomiebüchern und drückte sich kleinste Nervenfasern durch die rot-müden Augen ins Gedächtnis. Es gelang uns ein kleines Stückchen Himmel über uns freizuhalten, was wir für Unternehmungen nutzen konnten.
Es war eine Zeit des Umbruchs, in der meine Freundin abhandenkam. Sie verliebte sich in jemand anderen, und trat mich in einen endlosen Abgrund. Ich heulte Rotz und Wasser, verfluchte die Welt und mich. Der Wunsch kam in mir auf, dass ich einfach auf dem Bett liegenbleiben wollte, um nie wieder auf zu stehen. Meine Welt war aus den Angeln gekippt. Ich schwebte schwerelos im Raum. Das Ende dieser Liebe hatte alles vertauscht, oben war unten und umgekehrt. Louis war es, der neben meinem Bett auftauchte, ungefragt. „Vincemann“, sagte er. „Vincemann, du verkommst zum Schluri!“, blitzschnell packte er den Schlafsack auf dem ich lag und zog daran, blitzschnell. Ich fiel krachend auf den Holzboden. „Scheiße!“, fluchte ich, dann rappelte ich mich langsam auf. Das war Ermunterung und Lektion in einem gewesen, wie Louis mir zeigte, wie man Wirrnissen im Leben begegnen kann. Hinfallen und wieder aufstehen!

Ich habe meinem Freund versprochen, dass ich die zu schreibende Geschichte einem Menschen geben werde, von dem ich vermute dass er die Berg und Talfahrten des Lebens kennt. Vielleicht jemand, der wie wir, den kleinen Prinzen kennt. Ich weiß nicht wie dein Verhalten auf Parties ist. Du kennst bestimmt die süße Bitterkeit des Lebens, all seine bunten Facetten. Die kleinen und großen Aufreger. Kann sein dass du manches in der Welt mit den Augen des kleinen Prinzen zu sehen versuchst. Du lachst lieber, anstatt zu weinen, wobei dir der salzig brennende Geschmack kalter Tränen nicht unbekannt ist? Dann lohnt sich meine Mühe des Tippens und Louis lacht. Dann hast du den Großteil des Textes schon hinter dir, und ich will dir noch was über ein Wunder schreiben, über eine seltsame Begebenheit.

Sie hat mit einem noch größeren Schmerz zu tun, als ich ihn bis zu diesem Tag erlebt hatte. Fast zehn Jahre sind seitdem vergangen. Ich fiel in tiefste Nacht mitten an einem Augusttag, um 16:03 Uhr. Ich sehe noch das Handydisplay neben mir blinken. Es war genau sechszehn Uhr und drei Minuten. Ein Anruf aus Frankreich. Die gesamte Mischung aus diesen Gefühlen hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Jedes Mal erinnert mich der Blick auf die Karte daran, die Louis von seiner Motorradfahrt durch die Provence schickte. Vorne lachen die schönsten Flecken des Landes und auf der Rückseite ist die leicht gehetzte Handschrift des Freundes. Wir waren ein Jahr zuvor noch dort gewesen, zum siebten Mal. Wir zelebrierten unser Ritual: am Strand sitzen und Baguette mit würzigem Käse essen, dazu schweren Rotwein und das gute Gefühl, dass wir diesen schönen Moment mit einem Menschen teilten, den jeder gerne mochte.

Das war also einer dieser Augenblicke von denen mir Frau Mölters immer, als Kind sagte: „Männeken, watt is datt Leben watt fein!“, dann verlor sie sich mit dem roten Staubsauger irgendwo in unserem Haus. Von ihr ließ sich Papa sogar in ihrer verschmitzten Art sagen, dass er die Krawatte wechseln sollte, wenn es in seinem Sinne wäre, dass die Bäume ihrer Blätter behielten, wenn er aus der schmiedeeisernen Tor trat. Sie war die gute Seele die Mama bei der Hausarbeit unterstützte und ich halte auch heute noch große Stücke auf die Frau. Die Frau mit ihren blauen Latschen war immer umgeben von einer dezenten Wolke kölnisch Wasser Geruchs. Bei einem Gartenfest meiner Eltern kam sie in einem geblümten Kleid und brachte als Präsent einen Strauß lila Blumen mit. „Sehr unpassend gekleidet“, wie Opa meinte. „Ich freue mich, dass Frau Mölters mit uns feiert“, entgegnete Mama, in ihrem dunklen Kleid mit der schönen Schleife. Mama trug die Haare in einer Steckfrisur, was sie noch schöner aussehen ließ, mit ihren dunkelblonden Haaren und ihren ruhigen grünen Augen. Ich stimmt Mama freudig zu und griff wie zum Beweis nach der kräftigen Hand von Frau Mölters.

Ich schreibe dir das mit der guten Frau Mölters, damit du dir ein Bild machen kannst, wie wichtig sie mir war. Sodass ich auch, lange nach meiner Kindheit an sie dachte. Es war ungefähr ein knappes Jahr vor dem verhängnisvollen Tag im August, als Louis und ich unsere Wanderschuhe auszogen. Wir waren mehr als vier Stunden stramm gewandert und gönnten uns eine längere Pause. Wir saßen an einer schmalen Bergstraße in einer kleinen Hütte, drinnen stand ein wackliger Holztisch und irgendwer hatte seine Wanderkarte hier vergessen. Rings um lag die Landschaft unter einer leicht nebligen Decke, nein, eher ein Flimmern, wie über heißem Asphalt nur dichter. Wir wünschten uns eine Dusche herbei. Die T-Shirts klebten unangenehm am Rücken. Bei jeder Bewegung zog es im Körper. In der Phase der Entspannung schnitt Louis mit der Schere seine Multitools ein Stück gelbes Band ab, das er im Rucksack fand. „Sieht aus wie der Schal den der kleine Prinz trägt“, witzelte er, dann schnitt er noch ein Dreieck aus dem Band heraus. Wir lachten beide als wir in meinem Buch guckten, dass ich immer mit auf unsere Touren nahm. Die kleine, gebundene Ausgabe von dem begeisterten Piloten, dessen kleiner Prinz jemand ein Schaf zeichnen lässt. Dieser kleine Prinz der sich so um seine Rose sorgt.
Louis hatte die Idee gehabt, dass wir mein Buch mit einer Widmung versehen in der Hütte deponieren könnten. Wäre es so unmöglich dass sich ein anderer Mensch darüber freuen könnte? Du kommst total müde in eine alte Hütte und findest ein Buch, eingepackt in einer Gefriertüte. Gesagt getan. Das war alles vor diesem verdammten August gewesen.

Ein Jahr nach der stillstehenden Uhrzeit 16:03, saß ich im wieder mal im Zug in den Süden der Grande Nation.
Draußen war Sommer und mir das Herz schwer. Ich saß im Zugabteil, mir schräg gegenüber, eine junge Frau. Ich schätzte sie etwas jünger als ich. Sie schlief. Wir hatten uns kurz begrüßt, als sie ins Abteil kam und einen Rucksack nach oben wuchtete. Eine zierliche Wanderin, die ausgiebig gegähnt hatte. Ihre Augen hatten eine Spur Türkis in ihrem Blau. Die Augenbrauen waren zart geschwungen, das fiel mir an ihr auf. Und sie hatte Grübchen am Kinn, wenn sie lachte. Sie kam auch aus Deutschland, war aber schon länger unterwegs gewesen als ich. Ich erfuhr dass sie Studentin sei, und in die Provence fahre, weil sie dort abschalten könne, das Essen und den Wein dort liebe, und auf der Suche nach etwas sei. Dann erzählte ich ihr, dass es mich immer wieder an diesen Ort zöge, um etwas nicht zu vergessen.
Da nickte sie neugierig und ihre Ohrringe klimperten. Ihre Lippen umspielte ein zögerndes Lachen, dann wurde ihr Blick ernst und sie schwieg. Leere Bahnhöfe rasten vorbei, der Zug holperte über Brücken, einmal stoppte er abrupt; entschloss sich aber nach einer halben Ewigkeit ruckelnd wieder Fahrt auf zu nehmen. Wehmütig dachte ich im Schlaf an Wein und Käse, etwas weckte mich auf, einfach so.
Ich schlug die Augen auf, starrte Lea-Marie an, so hieß sie. Ungläubig legte sie das Buch neben sich, in dem sie gerade las. Strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und beugte sich in meine Richtung. Mir wurde heiß-kalt, ein Schauer umfloss mein Herz. Ich schlug die Hände vor mein Gesicht, und merkte wie mich die dunkelblonde mit einer Mischung aus Skepsis und Verwirrung beobachtete. Mir war es peinlich, dass ich weinte. Ich hörte Louis mit seiner tiefen Stimme in meiner Erinnerung reden, und sprach es aus:

„Lo más importante no se ve con ojos sino con el corazón.”

Lea-Maries Blick fixierte mich zögernd, als sie tastend nach ihrem Buch griff. Dann pendelten ihre schönen Augen zwischen dem geöffneten Buch und meinen Augen hin und her.
Sie wusste nicht was sie davon halten sollte, von der gehetzten Handschrift und meiner Rezitation. Vorne im Buchdeckel stehen zwei Namen prophezeite ich: Vince und Louis. Einer mit blauer Tinte geschrieben, der andere mit einem grünen Filzliner, wie das Zitat. „Nein“, hauchte sie und streckte mir das Buch entgegen. Ich berührte das abgegriffene Buchcover wie einen gerade geborgenen Schatz, hielt es sanft wie ein Baby in meinen Händen. Ich war gerührt und ließ meine Tränen fließen. Ich biss mir auf die Unterlippe als ich las: Vince und Louis und Lea-Marie. Drei Namen, der letzte mit schwarzem Kuli geschrieben. Immer noch völlig überrascht hatte Lea-Marie ihre Hände an ihre Wangen gelegt und sagte mehrmals „Puh!“ und „Ich fasse es nicht!“
Auf mehreren Seiten hatte ich eigene Gedanken über die Freundschaft und über die Liebe aufgeschrieben. Randnotizen aus der Vergangenheit. Es sind Blitzlichter meiner Gedanken und Gefühle. Das Buch habe ich mit meinem eigenen Leben gefüllt. Ich habe an die Verrücktheit des Lebens geglaubt, nachdem ich einen Freund traf. Ich bin weder besser noch schlechter, weil ich Louis kennen lernen durfte, aber ich bin reicher. Reicher an Erfahrungen und Erinnerungen in meinem Herzen, und darauf kommt es an in unserem Leben. Darauf, und dass wir nicht nur an Wunder im Leben glauben, sondern dass wir sie möglich werden lassen.


EPILOG:

Fünfzehn Jahre sind vergangen seit mich Lea-Marie gefunden hat. Elf seit ich Louis in der engen Serpentine verloren habe. Wir reisen in einer Höhe von ca. 10.000 Metern, was in etwa 32.808 Fuß entspricht. Unter uns liegt eines der Weltmeere, und bald werden wir in Deutschland landen. Unsere Familien freuen sich auf uns, sehen sie uns doch jetzt sehr viel weniger. Mein Opa hat sich mit der Tatsache ausgesöhnt, dass ich Rechtlosen in einem fernen Land zu ihrem Recht verhelfe. Meine beste Freundin stärkt mir den Rücken und berät eine große Hilfsorganisation als Ärztin. Wir werden mit dem Zug in die Provence weiterfahren, uns dort einen Mietwagen nehmen und in einem urigen Hotel wohnen. Lea-Marie und ich werden bei einem Glas Wein wieder in dem abgegriffenen Buch lesen. Wir werden Käse und Melonenstücke genießen. Und wir gehen einem alten Freund von mir „Hallo“ sagen, der neben seinen Großeltern auf einem kleinen Hügel beerdigt wurde. Rechts von ihm steht eine krumme Eiche. In der Luft hängt der Duft nach Hochsommer und die Zikaden zirpen. Heute werde ich dem Freund leise sagen können:

„Deine Geschichte ist fertig und verschickt! Lea-Marie und ich haben in unserem Buch gelesen. Du fehlst mir immer noch, aber ich bin verdammt froh dass du in mein Leben gerannt bist, damals auf dem Balkon. Du weißt schon? Und weißt du was!? Dir entgeht was, so richtig viel mein Freund, weil ich sie dir nicht hierlassen kann…“

Über uns hängt der Duft nach Lavendel und staubigem Boden. Leise lässt der warme Wind die Eichenblätter tanzen. Unsere Kinder toben durchs Gras, bevor wir sie in den Wagen scheuchen. Ich küsse Lea-Marie ganz sanft. Schnell verliert sich das Auto auf der kurvigen Straße. Die Luft flirrt unter der Sonne. À bientôt Provence!

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Samstag, 21. April 2012
„What would you like for breakfast this morning?“
Ich habe einen Ort entdeckt an dem die Zeit langsamer verläuft, als überall sonst auf der Welt. Neugierig bin ich, und ich entdecke gerne neue Orte und Länder, aber nicht zu dieser Uhrzeit.
Der Nachtdienst ist rum und ich bin ziemlich müde.
„Heute bedient sie: Tante Klara, die Märchenvorlesefrau vom Weihnachtsmarkt.“, der Spruch könnte auf einem handgeschnitzten Schild auf dem Tresen stehen. Ohne heißen Kaffee und einen Happen zwischen die Zähne, bekomme ich morgens ziemlich miese Laune. Da hilft auch nicht die Vorfreude darauf, dass der Zug mich in Richtung meines Bettes fahren wird.
Tante Klara, ich nenne sie mal so, trägt einen festen Zopf und eine grasfroschgrüne Harrypotter-Brille.
„Es war einmal, vor langer, langer […] laaaanger, laaaaaaaaaaaaaaaaaaanger Zeit, dass…“
Die Arbeitsstimmung der Einfraushow kann als gediegen bezeichnet werden. Sie hat die Ruhe echt weg und nimmt aus der länger werdenden Schlange alle Bestellungen an.
Soweit so gut, aber was zu Beginn vergleichsweise zügig vor sich geht, rächt sich auf der Zielgeraden.
Und zwar genau in den Augenblicken, in denen die Wartenden merken, dass sie zunehmend an genervt sind und verdammt Knast haben: Das ist die Todeskombi.
Tante Klara kann das alles nicht anheben. Seelenruhig nimmt sie Kaffeewünsche entgegen, fragt gerne mal zwei bis dreimal nach. Die Kunden sollen ja auch einen schönen Samstagmorgen haben.
Hinter mir steht übernächtigtes Partyvolk. Ein Typ mit zwei Blondinen im Schlepptau.
Alle drei total im Eimer. „Ich kotz ab!“, sagt der Hemdenpaule zu einer seiner Begleiterinnen.
Kotzen!? Das kommt mir doch bekannt vor! Beruflich kann sich sowas schon ergeben, wenn andere Partymachen gehen. Das unschöne, bröckelige Resultat von Sauftouren.
Ich trete einen Schritt zur Seite, aber nichts passiert, außer, dass der Partylöwe die beiden Ladies küsst. Er wechselt fast gerecht ab, aber bevorteilt die rechts von ihm etwas zu sehr.
Alle atmen mir von hinten Alkoholfahnen um den Kopf. Und sie lachen, dümmlich. Zerreißen sich fast über jeden Scheiß. Die haben wohl nicht nur Alkohol in der Birne.
Am Tresen wechselt gerade eine unerwünschte Cola wieder den Besitzer.
Eine Frau mit sehr offenherzigem Dekolleté trommelt mit ihren langen Fingernägeln
ungeduldig auf dem Tresen.
Dann kommt die Engländerin an die Reihe, was ich nicht so ganz mitbekomme, weil es in dem Laden immer unruhiger wird.
Wenn ich deren Bestellung rekonstruiere, muss sie in etwa folgendes bestellt haben:

2 Kaffee
1 Muffin Dingens mit Ei und Schinken
2 Toastteile mit Schinken drin
3 Muffin Dingens mit Hühnchen
2 Mal irgendwas, wo der Schachtelwirt denkt, dass Ahornsirup geschmacklich dazu passt
1 Croissant

Tante Klara hat verstanden:

1 Kaffe &
10-13 ja, äh, andere Sachen halt! Aber was genau? – Frau hat da nicht so den Durchblick…

Ich bin an der Reihe und begnüge mich mit einem Kaffee, etwas zum Beißen und der Vorfreude darauf, dass ich im kommenden Jahrtausend zumindest ein Frühstück parat haben werde.
Nach und nach schafft die Märchenfrau tatsächlich die Bestellungen abzuschließen.
Es gehen auch nicht mehr so viele Sachen zurück oder müssen noch nachgefordert werden.
Das sehen auch die Kollegen von Tante Klara mit zuversichtlichem Blick, während sie sich mit solch wichtigen Sachen beschäftigen, wie die Milchdöschen nachzufüllen, was vor 2 Minuten erst ein anderer Kollege getan hat. Weniger geworden sind es zwischenzeitlich nicht.
Eine blonde Frau füllt Krümelzeugs beim Eisautomaten nach. Die ist bestimmt Studentin und sagt dann bei ihrem Mädelsabend zu ihren Freundinnen: „Das macht voll Spaß beim McFress zu arbeiten. Ist voll entspannt.“ Dann kichern alle, weil sie zu viel Rotwein getrunken haben, essen Schokobonbons und gucken die Filme mit Till Schweiger weiter.
„Where are the french fries?”
Tante Klaras Gesicht verrät, dass sie nichts verstanden hat.
Die Engländerin wühlt sich durch 1 ½ Papierhenkeltüten. Die hat Tante Klara voller Liebe und Sorgfalt gefüllt.
Die Touristin ist ratlos. „My family is waiting…“
Da kriege ich noch Zustände, wenn ich mir das weiter gebe. Ich habe echt Hunger, und wenn das nicht ein bisschen flüssiger läuft, dann laufe ich und zwar immer den Schienen nach.
Das kann nicht Gottes guter Wille sein!
„Die Frau will wissen wo ihre [fuckingshit] Pommes sind!“
Jetzt huscht ein Lachen über Tante Klaras Gesicht und ein Gewicht fällt von ihren schmalen Schultern sie schiebt die Harrypotter-Brille zu recht, soviel Zeit muss sein.
„Könnten Sie bitte übersetzen, dass das noch drei Minuten dauert?“
Wenn´s weiter nichts ist. Dann holt Tante Klara noch neue Pommes, und füllt sie in die Siebe über dem Fett.
„Danke, dass Sie übersetzt haben!“, sagt Tante Klara zu mir. Dann stellt sie mir zu meinem bestellten Kaffee noch einen zweiten dazu.
„Thank you very much for your translation!”, die Engländerin schüttelt meine Hand.
Sie hält mir die schwerere der beiden Tüten hin. Ich soll mir was aussuchen.
Schnell entscheide ich mich für ein Muffingedöns, wünsche den beiden Frauen einen schönen Tag und laufe zum Zug.
Beim Kauen denke ich mir wie schön dieser Morgen doch ist. Die Sonne scheint durchs Zugfenster und ich habe noch keine Ahnung davon, dass es zu Hause pissen wird, als hätten die Wolken eine deftige Blasenentzündung.

Gute Nacht und schönen Tag!


Manolo Ramon // 21. April 2012

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Samstag, 14. April 2012
Die Daltons, Kayla-Fabienne und ein Fruchtshakelächeln.
Vielleicht sollte ich mir mal ein Bahnticket kaufen, das für mehr als eine Stunde gilt?
Dann könnte ich von irgendeinem Alpenkaff bis hoch ans Meer fahren. Und beim Rattern der Räder auf den Schienen, die Zeilen in meinem kleinen, schwarzen Buch füllen. In einer Linkskurve macht der Fineliner auch prompt einen leichten Linksruck, während ich festhalte, dass vier Männer tatkräftig zupacken, um einen Mann im Rollstuhl über die Lücke zwischen Zug und Bahnsteig zu heben. Ein Mann im Anzug und Laptoptasche, ein Wanderer mit Teleskopstöcken, ein Rentner und ein Student (erkennbar am Kapuzenshirt seiner Uni und dem Aufkleber an seinem Rucksack. Der macht deutlich, dass er nicht alle Bahnhöfe mag).
Der Rollstuhlfahrer verschwindet in der Menschenmasse.
Die Sonne scheint durch Zugefenster und lässt die Seiten vor mir in den Augen stechen, wie ein Sandstrand in der Karibik.
Also schnell den Platz auf der gegenüberliegenden Seite besetzt. Endlich Schatten! Dann machen die Schienen plötzlich einen Knick, denen der Zug folgt.
Zack! – Die Sonne grinst mir wieder volles Mett ins Gesicht und lässt das Papier leuchten.
Das ist fast so schlimm, wie Schweißen ohne Schutzbrille.
Mit dem Zugführer im Rücken beobachte ich die anderen Mitreisenden.
Da hüpft ein kleines Mädchen auf einem der Sitze rum und lacht. Neben ihr sitzt ein Kopf mit Pferdeschwanz, der langsam seine Blonde Farbe verliert. Weiter vorne im Gang steht ein Junge, kaum Flaum über den Lippen. Ed Hardy – Shirt. Lässig eine Kippe hinterm gepircten Ohr.
Er schiebt rhythmisch einen Buggy vor und zurück. Der Typ guckt zu dem Kleinen Trampolinmädchen. Dann steckt er sich wieder einen der Ohrstöpsel ins Ohr, nachdem er irgendwas aus einem seiner Nasenlöcher geprokelt hat.
Genau eine Sitzreihe vor mir sitzt ein großer Mann mit einer wirren Frisur und abgetragener Outdoorweste.
Ein Zwitterwesen auf dem Kopf, aus Einsteins- und Struwwelpters-Haaren.
Dann steigen sie in den Zug ein: Die Daltons. Besser gesagt, deren nicht kriminelle Schwestern. Vorneweg läuft eine stattliche Frau. Alter: 60 plus x. Hochtoupierte Haare. Ein in die Jahre gekommenes Dunkelblond. Sehr elegant gibt sie sich und trägt knallrotem Lippenstift auf den spitzen Lippen. Gekleidet in einen beigen Mantel mit Fellbesatz.
Drei Frauen folgen ihr, von der Größe her abgestuft.
Die gibt bestimmt den Ton an, überlege ich mir. Sie schaut sich mit einem ins Gesicht gemeißelten Lächeln um, das über allen anderen schwebt. Adlerinnenaugen und ein berechnender Blick.
Den vier Grazien fehlen nur noch die Hüte, dann würden sie beim Royal Ascot nicht groß auffallen.
Hier im Zug tun sie es. Eher gewollt, als nicht gewollt.
Kayla-Fabienne hat mittlerweile die Hüpferei eingestellt und ist hinter der Lehne verschwunden.
„Dürften wir Sie höflicherweise bitten, dass…!“, die Dunkelbonde Frau hat ihren Satz noch nicht beendet, da ist Einstein-Struwwelpeter schon von seinem Sitz aufgespritzt, devot-freundlich. Und wechselt schnell, in Fahrtrichtung, nach links. Er verstaut Jacke, Rucksack und Jutebeutel an ihrem neuen Platz.
Die vier Damen setzen sich. Schwestern im Geiste. Ich kann mir fast vorstellen, dass die Schickeria im Garten sitzt, bei einem Picknick, nur ohne Decken und Essen. Eine Szene, wie von Jane Austen.
Da wird aus Mister Darcy ein Facharzt, der in einer großen Deutschen Stadt seine Privatpraxis hat. „Privatpraxis“, äfft eine Begleiterin die Erzählerin nach.
Oft wiederholte Erwiderungen der anderen drei werden sein: „Ach, da schau an!“, „Soso!“, „Nein, das glaube ich nicht!“ und als rhetorische Krönung: „ Da gehe ich völlig d'accord mit dir!“
Eine dikcliche Frau guckt immer wie ein trauriger Mops. Es wird von der Ex-Schwiegertochter gesprochen, der man geholfen hat, ein Brautkleid zu kaufen. Natürlich in New York: „Du glaubst es nicht! – Todschick und süüüündhaft teuer!“ – „Nein, das glaube ich nicht!“ …
„Und reizende Dessous habe ich mit ihr gekauft, also ganz wie eine Mutter!“ – „Ach, da schau an!“
Ich stelle mir im Stillen die Frage: Welche Frau geht mit ihrer Mutter reizende Dessous kaufen!?
Der traurige Mops erinnert sich an lange vergangene Zeiten. Ein verträumtes Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Die Zugfahrt dauert fast eine Stunde und ich lausche diesem Hörspiel. Vorgetragen von einer alten Matrone.
Höre von Golfurlauben und Fahrten nach Madeira. Und ich wusste gar nicht, wie man in manchen Kreisen die überflüssigen Pfunde los wird. Bei Luxuskreuzfahrten das „süüündhaft leckere Mittagessen“, weglassen! Kein Hummer und kein feinster Fisch.
"Alles so appetitlich!“ – „Ach, da schau an!“
"Aber abends gabs ja auch schon wieder so köstliche Dinge..."
Der Mops öffnete den Mund, für eine Erwiderung.
So langsam legte sich Hirnfrost in meine Windungen im Kopf. Ein Schauer durchfuhr mich: Nicht vorstellbar, wenn ich selbst mal so eine Frau als Schwiegermutter bekäme.
Mit dem Bild im Kopf verdunkelt sich fast die Sonne.
Da würden selbst Stephen King die Worte fehlen, um das treffend beschreiben zu können.
Jeder der das live erleben konnte, der musste sofort dem Wahnsinn verfallen. Und grässlich schabende Ohrgeräusche würden den Armen bis zum Tod hin begleiten, und Blut würde aus ihnen laufen. Jeden Tag ein wenig mehr.
Endlich angekommen!
Am Zielbahnhof kaufe ich mir einen Fruchtshake, zubereitet von einer grazilen Schönheit. Sie hat rehbraune Augen und fummelt an ihrem Ohrring rum, während der Mixer lärmt.
Dann schnell zum Dienst.
Als ich später wieder zum Zug will, merke ich, dass ich kein Kleingeld mehr habe, und der blöde Automat alle meine Scheine wieder ausspucken wird. Schöne Scheiße! Jetzt wird’s sportlich, weil der Zug in Knapp acht Minuten abfährt. Ganz egal ob ich auf einem Sitz sitze oder nicht.
Da fällt mir der Fruchtshakestand wieder ein.
„Du warst heute Nachmittag auch hier, aber da hast du was anderes getrunken…“. Ich krame in meinem Geldbeutel herum und kann der Frau im engen grünen Top wenig Beachtung schenken.
„Sie…“, ergänzt sie, als ich sie wieder ansehe. „Du ist auch ok!“, sage ich. Ihre Hand berührt meine länger, während sie mir umständlich mein Wechselgeld reicht.
Sie hat eine erfrischende Art und passt auf meinen Fruchtshake auf, damit ich mir schnell ein Zugticket kaufen kann.
Mit einem süßen Fruchtshakelächeln verabschiedet sie mich, und ich renne auf den Bahnsteig.
Dann fährt der Zug los. Mit mir auf einem der Sitze.

Manolo Ramon // 14. April 2012

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Man sieht sich immer Zweimal im Leben
Das Auto ist hin, also hat die Bahn einen Fahrgast mehr. Nach Landau steigt ein Pulk junger Bundespolizisten in den Zug ein. Angeführt von einem gemütlichen Alten mit Halbglatze. Seine jüngeren Kollegen tragen alle schusssichere Westen und schwer beladene Koppel um die Hüften. Alle kauen Kaugummi, bis auf den Altgedienten.
Zwei Jungs sind unter ihnen und auch eine Frau die aussieht, als könnte sie auch eben so gut Jura studieren.
Schon als ich sie alle auf dem Bahnsteig stehend sehe, denke ich mir, dass die eine gemeinsame Ausbildungsfahrt machen. Gegenüber von mir nimmt ein junger Mann Platz.
Könnte vielleicht ein Türke sein? Ich lese in der Frankfurter Rundschau, während ich aus dem hinteren Teil des Wagens schon Wortfetzten höre „Ausweis“, „Kontrolle“… Vernehmbar atmend kommt der dickliche Uniformierte an unseren Vierer. Er mustert kurz die Zeitung, dann mich und nickt freundlich. Dann spricht er den Mann schräg gegenüber an: „Kann ich mal den Ausweis sehen!?“ – Der Mann gibt ihn ihm.
Sieht nicht wie unser Perso aus. „Wie ist denn ihr Titel?“, aha da geht’s wohl um den Aufenthalt. Dann das Procedere. Ein paar Schritte im Gang weitergehen, mit dem Ausweis in der Hand. „Ja, ich bin´s. Mach mal ne Personenfahndung: Siegfried, Emil, Richard, Cäsar… Ah, ok. Negativ?“ Der Mann bekommt seinen Ausweis wieder. Die Jura-Frau rückt nach und sieht mich an: „Guten Morgen. Die Bundespolizei…“, dann sieht sie in Richtung ihres Chefs, der schüttelt unmerklich seinen Kopf. Die Combo zieht weiter. „Immer ficken die uns Ausländer!“, sagt der Mann erbost zu mir, dann fragt er: „Was hast du denn für einen Pass?“ Ich reiche ihm meinen Perso. „Der ist aber auch im Februar abgelaufen, mein Freund!“, er gibt ihn mir lachend wieder. - Oh, verdammt! Ein paar Reihen weiter beschwert sich ein Typ mit Dreads in tiefstem Hinterpfälzisch über die Polizeikontrolle.

Nach dem Dienst nimmt mich eine freundliche Sozialpädagogin mit, nachdem sie mich beobachtet hat, wie ich meinen Zielort am Automaten eingeben wollte. „Ich kann ab sieben Uhr immer noch fünf Leute kostenlos mitnehmen!“. Warum ein solch nettes Angebot ausschlagen? Im Zug sitzt im Vierer nebenan ein Paar und küsst sich die ganze Zeit, neben sich ein Sixpack Bier auf dem Sitz. Er mit viel Gel in den Haaren, sie mit einem schönen bunten Schal über der Outdoorjacke.
Ich gucke einen Moment zu lange rüber, gerade lange genug, um festzustellen: Die kennst du doch! Heute Morgen lief sie noch in dunkel- und hellblau durch den Zug. Sie lacht kurz. Die Jura-Frau mit ihrem Freund. Die Sozialpädagogin erzählt mir von Reisen nach Indien und der Ungleichbehandlung der Frauen dort. Dann stellen wir fest, dass wir beide in Ecuador waren, in der gleichen Stadt: Guayaquil. Später laufe ich ihr nochmal in der Bank über den Weg.

Manolo Ramon // 13. April 2012

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