Dienstag, 16. Oktober 2012
LEONIE KOMMT NACH HAUSE
Es gibt viele Katastrophen. In meinem Dorf gerät alles aus dem Takt, wenn der gelbe Postkasten nicht geleert wird.
Dann hängt links neben der Metzgerei das Geschlossen-Schild an der Eingangstür.
Und der walrossige Valentin steht nicht in seinem Laden.
Das Neonlicht flackert nicht über dem engen Labyrinth aus Cornflakes, Hygieneartikeln, Uhu-Flaschen und Etiketten für Einmachgläser.
Die Frau vom Heinrich, die wusste noch wie man Obst und Kürbis haltbar macht. Ohne Weißblechdosen und einer Fabrikhalle voller Technik.
Der Oma wurde die Welt hier nie zu eng. Dieses dicht an dicht aus Bäumen. Die kannte sie alle mit Namen. Und die Frau mit dem Dutt auf dem Kopf war glücklich hier.
Wenn die Sonne über den Baumwipfeln aufging, dann war sie ergriffen. Und die Hand mit den kurzen Fingern hat mir manches Reh gezeigt, das im Nebel aus dem Wald geschlichen war.
Der Geruch der frischen Steinpilze und das altersschwache Radio auf dem schmalen Regal in der Küche. Das ist Heimat für mich.
Und den Heinrich zog es auch nicht nach San Francisco. Für ihn war der breite Bach sein Mittelmeer. Er brauchte kein Guinness. Und das Pergamonmuseum war für ihn so interessant, wie für mich die ausgestellten Dreschflegel und Melkschemel.
Die konnten unter der Woche im Bauernmuseum bestaunt werden.
Am Wochenende war geschlossen. Was daran liegen konnte, dass samstags immer noch alles geschafft werden musste, was bis dahin noch nicht erledigt worden war. Und sei es die Herbstblätter vom feuchten Kopfsteinpflaster zu fegen.
Sonntags blieb nach der Kirche noch genug Zeit, um in den Familien zusammen zu sitzen.
Der Valentin hatte schnaubend seine Noten zusammengepackt und das Licht auf der Empore gelöscht. Und am Ausgang drückte ein bärtiger Seefahrer jedem die Hand.
Unser Pfarrer.
Und dann saß man in der „guten Stube“ zusammen, wie Oma immer sagte und unterhielt sich oder spielte Karten. Und bei einem Bier wurde streng vertraulich über diesen und jenen aus der Nachbarschaft geraunt, gerade so laut dass es alle Anwesenden hören konnten.
Und so entlud mich mein Vater in den Ferien oft vor dem Haus meiner Großeltern. Ich habe den Wochen immer schon entgegengefiebert und mich auf dieses Postkartenidyll gefreut.
Diese Umklammerung des Eingepfercht-Seins war mir da noch fremd. Nicht ohne Grund lebten wir in der Stadt.
Höchst widerwillig hatte Opa zur Kenntnis genommen, dass sein einziger Sohn nicht Förster werden wollte. Wahrscheinlich hat Opa gar nichts gesagt, sich nur seinen Lodenmantel umgehängt, die Hände in die Taschen gesteckt und ist wortlos den Weg am Wald hochgelaufen.
Opa hat nie viel gesprochen. Sein Vokabular schien aus den wichtigsten Sätzen zu bestehen. Gerade so viele, dass er mit Menschen gut auskam und Streit vermied. Und zu wenige, um Freundschaften zu schließen.
Nur das Zitherspiel ließ auf seinem schmalen Gesicht einen Anflug bedächtiger Freude wetterleuchten.
Mit dem Verklingen der Musik wichen die tanzenden Bewegungen seiner Augenbrauen.
Es gab einen Mann mit dem sich Heinrich einen Deut besser verstand, als mit anderen Menschen. Nicht dass es deutlich spürbar gewesen wäre.
Für einen, der zufällig die Kirchgasse entlanggelaufen wäre, hätten dort nur zwei alte Herren gestanden und beim Blick über die zertretenen Koppeln vom Bauern Kerchel geschwiegen, die noch vor dem Mühlbach lagen.
Günter nannte ihn Opa in den letzten Jahren immer. In der Zeit in der er begann zu vergessen. Und Leonies Opa schwieg, obwohl er nicht Günter hieß.
Wenn die Tochter von Richters von dem ausklingen der Jugend an, bis zum Erwachsenenalter an Schönheit verloren hatte, war Leonie das Gegenteil davon.
Und als Kind habe ich mir nichts daraus gemacht, wer neben mir in Gummistiefel durch den Matsch stapfte.
Leonie war fast so stark, wie wir Jungs. Sie war das mutigste Mädchen das ich bis dahin kennen gelernt habe.
„Wetten, du packst es nicht bis zu dem Ast da rauf zu klettern!?“ – „Tue ich wohl!“ Und wir beneideten sie fast ein bisschen, als sie aus dem Kirschbaum fiel und sich den Arm brach.
Voller Stolz zeigte sie uns später die Narbe.
Und mit den Jahren wurden Leonie und ich uns enge Vertraute. Die Schulzeit endete und mit ihr die Sommerferien.
Es boten sich weniger Möglichkeiten in unser Dorf zu kommen.
Die behütete Kindheit führte ins Leben.
Und die täglichen Herausforderungen hatten oft wenig gemeinsam mit dem ruhigen Landschaftsbild.
Ich kann mich noch an Leonies Tränen erinnern, als Opa mit dem schwerkranken Jagdhund zum Tierarzt fahren wollte.
Er stoppte am Waldrand und lud den Hund auf einen Arm, während er sein Gewehr schulterte. Und Leonie drückte mit ihrer Hand meine, ganz fest. Es knallte.
Und die Krähen stießen sich erschreckt vom lehmigen Feld ab.
Seit dieser Zeit habe ich nie wieder mit einer Freundin bei Taschenlampenlicht unter einem Wolldeckenzelt Comics gelesen.
Geschweige denn mich für einen Reporter mit Hund interessiert.
Mit Leonie habe ich zusammen Mückenstiche gezählt.
Und später noch ganz andere Sachen erlebt. In der Wiese. Über uns ein Ozean aus Sternen.
Wir haben zusammen Stockbrot gebacken und die Keksdose ihrer Oma geplündert.
Sie und ich waren beide die Gendarmen, weil keiner der Räuber sein wollte.
Und ich frage mich, warum sich diese hübsche, junge Frau so oft im Leben verirrt hat.
„Warum hast du diesen Schlingerkurs eingeschlagen?“ – „Ich kann es dir nicht sagen. Ehrlich!“
Mit den Jahren verlieren sich Menschen aus den Augen. Einst nahe Personen verlieren an Bedeutung.
Es bleiben gemeinsame Erinnerungen oder nicht mal diese.
Ich weiß, dass du studierst hattest. Wir haben uns auch noch drei oder vier Mal gesehen, bevor ich ans Meer zog.
Nach 5 Jahren hörte ich wieder von dir. Und wir waren uns fremd in den ersten Minuten.
Und heute rief dein Vater morgens im Büro an und hinterließ eine Nachricht.
Abends hörte ich stundenlang Musik und trank dabei Cabernet Sauvignon. Starrte in die Oktobernacht und schlief mit brennender Leere im Kopf ein.
Das Handy weckte mich. Mitten in der Nacht.
„Und ich soll wirklich nicht mit dir mitkommen?“ Ich habe bloß leicht meinen Kopf geschüttelt und meine Frau angesehen. Ihre Augen versuchten meinen Blick zu greifen. Und ich spürte noch die Wärme ihres Kusses, als ich auf die Autobahn abbog.
Ich hatte ihren Geruch in der Nase. Und er verlor sich nicht, als ich eine Currywurst mit Pommes aß, die schon zu lange im Fett geschwommen waren.
Der Tankwart bot einem Fahrer seine Dienste an.
Und ich fuhr und fuhr, ließ die dreispurige Autobahn hinter mir. Und die blauen Schilder wurden weniger. Dann gab es nur noch gelbe Ortsschilder und weniger Verkehr.
An was ich gedacht habe, daran kann ich mich nicht erinnern. Bloß daran, wie ich bei meinen Eltern vor dem schweren Eisentor stand.
Und wir lagen uns in den Armen und schwiegen.
Papa verstärkte den Druck seiner Hand auf meiner Schulter.

Später am Tag stieg ich wieder ins Auto. Und dann begannen die Straßen zu steigen, nur um ein paar Minuten später wieder zu fallen. Nach einer Biegung schmiegten sie sich in einen dichter werdenden Wald.
Im Scheinwerferlicht passierte der Kombi ein Ortsschild.
Kurz dahinter kamen das Bauernmuseum und die Wiesen vom Bauernhof. Bei Kerchels brannte Licht.
Und wenn es früher am Tag gewesen wäre, dann hätte man die Kühe muhen hören.

Dann breiteten die Sterne ihr kühles Tuch über den Silhouetten der Bäume aus. Und die Nacht verschlang das letzte Licht.
Der Kombi stoppte am Waldrand. Genau dort, wo der schmale Weg zwischen die Bäume führte.
Ein großer Schatten schritt den Hang hinauf.

Ich atmete angestrengt und blieb genau an der Stelle stehen, wo früher der Hochsitz gestanden hatte.
Unter mir sah ich das Dorf. Die Viehweiden ließen sich nur erahnen. Der Wald lag wie ein Boomerang vor mir.

„Komm setz dich!“, sagte ich zu ihr und sie lachte. Dann legte ich meinen Arm um sie und zeigte in die Nacht.
„Weißt du noch, als wir hier oben auf dem Hochsitz saßen und unten die Störche beobachtet haben?“ „Bist du sicher, dass wir hier oben saßen? Waren wir da nicht unten auf der Bank neben der Buche?“
Es sind die Plätze mit denen wir viel verbinden.
Orte mit Personen und Personen mit Orten.
Der Mann kramte in seinem Rucksack. „Ich habe dir etwas mitgebracht“, und in der Kühle der Nacht legte er eine Postkarte und eine kleine Muschel ins Laub. Gespannt auf ihre Reaktion.
Sie sah ihn an und er wusste, dass ihre Augen blau in der Sonne funkelten.
Mit zarten Fingern nahm sie das Mitbringsel vom Meer auf und betastete es nachdenklich.
Sie strahlte und erinnerte sich „Die habe ich dir geschenkt!“.
Ihm Schein der entfachen Petroleumleuchte strichen ihre Augen durch die Zeilen.
Sie konzentrierte sich und hin und wieder schlugen die feinen Fältchen der Freude Kapriolen:

Lieber Marc,

nach einer Woche am Meer bin ich mit meinen Eltern wieder bei Oma und Opa. *würg* Hier ist es total langweilig. Und Jan nervt mich total (wie ich kleine Brüder hasse!).
Am Meer wars echt cool. Ging sogar mit Schwimmen. Wenn du mal ans Meer fahren willst. Also ich wäre absolut dabei!
Hier sagen sich echt Hase und Igel gute Nacht. Weißt du was? Dem Kerchel ist letzt die Hälfte seiner Kühe durch den Elektrozaun gerannt. Die haben das halbe Dorf zu geschissen. Die Feuerwehr ist angerückt und Flecki hat zum Geheul der Sirene den Wolf in sich entdeckt.
Klingt vielleicht komisch *nerv*, aber ich mag dich irgendwie.
Auch wenn du manchmal so nervig bist, wie Jan *lach*
Aber du bist anders, als die anderen Jungs. Die sind so laaaaaaaangweilig.

Und ich freue mich schon, wenn du wieder nach Hause kommst.

HDGDL Deine Leonie

P.S. Schreib mir mal zurück!


Die alte Kerchels stand am Fenster der Küche und sah zum Waldrand. Dort spielte Marc Leonie gerade sein Cover von „Written on the sky“ vor, das er aufgenommen hatte. Er hielt sie eng an sich gedrückt.
Die Frau kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Da war es doch heller? Genau an dem Punkt, von dem aus man die Beste Aussicht über das Dorf hatte.
Dort saßen Marc und Leonie immer.
Die Zwei waren unzertrennlich. Wie Pech und Schwefel. Wobei man schon gehört hatte, dass es Leonie nicht immer leicht gehabt hatte.
Wenn man dem alten René trauen konnte. Dem war einiges zu Ohren gekommen.
Und jetzt war Leonie nach Hause gekommen. Für immer.
Nachdem sie Fotos ihrer Heimat gemacht hatte.
Das Auto. Ihr Schicksal.
Sie war eine so bezaubernd schöne Frau geworden.
Die Frau am Fenster schloss die Augen und sah die beiden vor sich.
Marc und seine Frau: Leonie.
Und jeder andere hätte nur einen einsamen Mann gesehen, der im nieselnden Regen zwischen den Bäumen saß und mit sich selbst redete.

„Ich habe dich sosehr geliebt“, sagte Marc in die Nacht. Und ein Kauz antwortete ihm.
Dann zog er einen Stift aus der Jacke und begann zu schreiben. Leonie sah ihm über die Schulter. Marc spürte die Wärme ihres Atems und den Geruch ihrer Haare.
„Morgen kommst du nach Hause“, sagte er mehr zu sich selbst.

„Es gibt viele Katastrophen“, formte die Mine auf dem Block.


Manolo Ramon // 16. Oktober 2012

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