Samstag, 14. April 2012
Die Daltons, Kayla-Fabienne und ein Fruchtshakelächeln.
Vielleicht sollte ich mir mal ein Bahnticket kaufen, das für mehr als eine Stunde gilt?
Dann könnte ich von irgendeinem Alpenkaff bis hoch ans Meer fahren. Und beim Rattern der Räder auf den Schienen, die Zeilen in meinem kleinen, schwarzen Buch füllen. In einer Linkskurve macht der Fineliner auch prompt einen leichten Linksruck, während ich festhalte, dass vier Männer tatkräftig zupacken, um einen Mann im Rollstuhl über die Lücke zwischen Zug und Bahnsteig zu heben. Ein Mann im Anzug und Laptoptasche, ein Wanderer mit Teleskopstöcken, ein Rentner und ein Student (erkennbar am Kapuzenshirt seiner Uni und dem Aufkleber an seinem Rucksack. Der macht deutlich, dass er nicht alle Bahnhöfe mag).
Der Rollstuhlfahrer verschwindet in der Menschenmasse.
Die Sonne scheint durch Zugefenster und lässt die Seiten vor mir in den Augen stechen, wie ein Sandstrand in der Karibik.
Also schnell den Platz auf der gegenüberliegenden Seite besetzt. Endlich Schatten! Dann machen die Schienen plötzlich einen Knick, denen der Zug folgt.
Zack! – Die Sonne grinst mir wieder volles Mett ins Gesicht und lässt das Papier leuchten.
Das ist fast so schlimm, wie Schweißen ohne Schutzbrille.
Mit dem Zugführer im Rücken beobachte ich die anderen Mitreisenden.
Da hüpft ein kleines Mädchen auf einem der Sitze rum und lacht. Neben ihr sitzt ein Kopf mit Pferdeschwanz, der langsam seine Blonde Farbe verliert. Weiter vorne im Gang steht ein Junge, kaum Flaum über den Lippen. Ed Hardy – Shirt. Lässig eine Kippe hinterm gepircten Ohr.
Er schiebt rhythmisch einen Buggy vor und zurück. Der Typ guckt zu dem Kleinen Trampolinmädchen. Dann steckt er sich wieder einen der Ohrstöpsel ins Ohr, nachdem er irgendwas aus einem seiner Nasenlöcher geprokelt hat.
Genau eine Sitzreihe vor mir sitzt ein großer Mann mit einer wirren Frisur und abgetragener Outdoorweste.
Ein Zwitterwesen auf dem Kopf, aus Einsteins- und Struwwelpters-Haaren.
Dann steigen sie in den Zug ein: Die Daltons. Besser gesagt, deren nicht kriminelle Schwestern. Vorneweg läuft eine stattliche Frau. Alter: 60 plus x. Hochtoupierte Haare. Ein in die Jahre gekommenes Dunkelblond. Sehr elegant gibt sie sich und trägt knallrotem Lippenstift auf den spitzen Lippen. Gekleidet in einen beigen Mantel mit Fellbesatz.
Drei Frauen folgen ihr, von der Größe her abgestuft.
Die gibt bestimmt den Ton an, überlege ich mir. Sie schaut sich mit einem ins Gesicht gemeißelten Lächeln um, das über allen anderen schwebt. Adlerinnenaugen und ein berechnender Blick.
Den vier Grazien fehlen nur noch die Hüte, dann würden sie beim Royal Ascot nicht groß auffallen.
Hier im Zug tun sie es. Eher gewollt, als nicht gewollt.
Kayla-Fabienne hat mittlerweile die Hüpferei eingestellt und ist hinter der Lehne verschwunden.
„Dürften wir Sie höflicherweise bitten, dass…!“, die Dunkelbonde Frau hat ihren Satz noch nicht beendet, da ist Einstein-Struwwelpeter schon von seinem Sitz aufgespritzt, devot-freundlich. Und wechselt schnell, in Fahrtrichtung, nach links. Er verstaut Jacke, Rucksack und Jutebeutel an ihrem neuen Platz.
Die vier Damen setzen sich. Schwestern im Geiste. Ich kann mir fast vorstellen, dass die Schickeria im Garten sitzt, bei einem Picknick, nur ohne Decken und Essen. Eine Szene, wie von Jane Austen.
Da wird aus Mister Darcy ein Facharzt, der in einer großen Deutschen Stadt seine Privatpraxis hat. „Privatpraxis“, äfft eine Begleiterin die Erzählerin nach.
Oft wiederholte Erwiderungen der anderen drei werden sein: „Ach, da schau an!“, „Soso!“, „Nein, das glaube ich nicht!“ und als rhetorische Krönung: „ Da gehe ich völlig d'accord mit dir!“
Eine dikcliche Frau guckt immer wie ein trauriger Mops. Es wird von der Ex-Schwiegertochter gesprochen, der man geholfen hat, ein Brautkleid zu kaufen. Natürlich in New York: „Du glaubst es nicht! – Todschick und süüüündhaft teuer!“ – „Nein, das glaube ich nicht!“ …
„Und reizende Dessous habe ich mit ihr gekauft, also ganz wie eine Mutter!“ – „Ach, da schau an!“
Ich stelle mir im Stillen die Frage: Welche Frau geht mit ihrer Mutter reizende Dessous kaufen!?
Der traurige Mops erinnert sich an lange vergangene Zeiten. Ein verträumtes Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Die Zugfahrt dauert fast eine Stunde und ich lausche diesem Hörspiel. Vorgetragen von einer alten Matrone.
Höre von Golfurlauben und Fahrten nach Madeira. Und ich wusste gar nicht, wie man in manchen Kreisen die überflüssigen Pfunde los wird. Bei Luxuskreuzfahrten das „süüündhaft leckere Mittagessen“, weglassen! Kein Hummer und kein feinster Fisch.
"Alles so appetitlich!“ – „Ach, da schau an!“
"Aber abends gabs ja auch schon wieder so köstliche Dinge..."
Der Mops öffnete den Mund, für eine Erwiderung.
So langsam legte sich Hirnfrost in meine Windungen im Kopf. Ein Schauer durchfuhr mich: Nicht vorstellbar, wenn ich selbst mal so eine Frau als Schwiegermutter bekäme.
Mit dem Bild im Kopf verdunkelt sich fast die Sonne.
Da würden selbst Stephen King die Worte fehlen, um das treffend beschreiben zu können.
Jeder der das live erleben konnte, der musste sofort dem Wahnsinn verfallen. Und grässlich schabende Ohrgeräusche würden den Armen bis zum Tod hin begleiten, und Blut würde aus ihnen laufen. Jeden Tag ein wenig mehr.
Endlich angekommen!
Am Zielbahnhof kaufe ich mir einen Fruchtshake, zubereitet von einer grazilen Schönheit. Sie hat rehbraune Augen und fummelt an ihrem Ohrring rum, während der Mixer lärmt.
Dann schnell zum Dienst.
Als ich später wieder zum Zug will, merke ich, dass ich kein Kleingeld mehr habe, und der blöde Automat alle meine Scheine wieder ausspucken wird. Schöne Scheiße! Jetzt wird’s sportlich, weil der Zug in Knapp acht Minuten abfährt. Ganz egal ob ich auf einem Sitz sitze oder nicht.
Da fällt mir der Fruchtshakestand wieder ein.
„Du warst heute Nachmittag auch hier, aber da hast du was anderes getrunken…“. Ich krame in meinem Geldbeutel herum und kann der Frau im engen grünen Top wenig Beachtung schenken.
„Sie…“, ergänzt sie, als ich sie wieder ansehe. „Du ist auch ok!“, sage ich. Ihre Hand berührt meine länger, während sie mir umständlich mein Wechselgeld reicht.
Sie hat eine erfrischende Art und passt auf meinen Fruchtshake auf, damit ich mir schnell ein Zugticket kaufen kann.
Mit einem süßen Fruchtshakelächeln verabschiedet sie mich, und ich renne auf den Bahnsteig.
Dann fährt der Zug los. Mit mir auf einem der Sitze.

Manolo Ramon // 14. April 2012

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