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Freitag, 27. April 2012
32.808 Fuß
manolo ramon, 00:04h
von Manolo Ramon
für T.V.
„Der Zauber steckt immer im Detail.“
(Theodor Fontane)
Sie waren beide in Südfrankreich gewesen oder vielleicht ist es genauer, wenn ich dir schreibe, dass sie eigentlich zu dritt waren. Vielleicht wunderst du dich dass ich dir überhaupt schreibe, was das alles soll? Du kennst keinen Vince Yager, und ich kenne dich nicht, aber dennoch tippe ich dir diese Zeilen in den Laptop. Vielleicht hast du überhaupt keine Zeit zum Lesen, weil die Schule stresst oder der Job nervt? Vielleicht hast du gar keinen Bock auf andere Leute, willst einfach deine Ruhe? Dann wärst du so ähnlich wie Louis. Ich meine nicht genauso wie er, aber du würdest dich auf einer Party mit ihm verstehen und für ein, zwei und mehr Bier bei ihm stehen bleiben. Du würdest ihn schnell entdecken, er steht meistens erst etwas abseits, um sich dann ins Getümmel der Leute zu stürzen.
Louis überragt mich um einen halben Kopf, und ich bin schon nicht klein. Die Stimme des Freundes ist sehr tief, sie passt irgendwie so gar nicht zu der sonst hager wirkenden Gestalt.
Als ich den Freund zum ersten Mal sah, da röhrten bei einer Party die Bassröhren. Die vier Zimmer der Wohnung hätten wegen Überfüllung schon längst schließen können. Im Flur herrschte ein tanzwütiges Gedränge, an Enge und Leidenschaft kaum zu überbieten. Die Musik streichelte hämmernd meine Ohren, und legte sich pulsierend zwischen das Wabernde im Kopf. Dieses matte Gefühl zu vieler Drinks, und zu wenig kalter Würstchen und Chips. Lachende, rotverschwitzte Gesichter zogen vorbei. In der Wohnung stand der Geruch aus warmen Zigarettenrauch, Schweiß und Parfüm, fest wie ein Monolith.
Die Toilettentür widersetzte sich allen Öffnungsversuchen. Wahrscheinlich quälte sich dort drinnen jemand mit dem irgendwas ab, was ein schnelles Verlassen des Bades verhinderte. Ich wollte es nicht wissen, weil die Drinks ihren Tribut forderten. Mich interessierte auch nicht das heißere Flüstern und Kichern hinter der Tür. Es eilte, nach wenigen wackligen Schritten fand ich einen langen Balkon, auf der Seite, wo in der Ferne der schummrig erleuchtete Hafen lag. Es war eisig kalt, der Himmel lag dunkel über mir, während ich auf das Grundstückte pinkelte, was Bauschutt und Müll bedeckten. Irgendwo fiepte schrill eine Ratte.
„Man, scheiße, muss ich pissen!“, das waren die ersten Worte der Begegnung zwischen Louis und mir. Er hatte mich nicht entdeckt, stand still mit einem Stoßseufzer der Erleichterung am rostigen Geländer. Seine Augen schweiften über die frühmorgendliche Silhouette der tristen Fassaden, dann bemerkte er mich. Ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben, blickten wir uns an. Hättest du mich an dem frühen Morgen gefragt, ob der übernächtigte Typ mit den dichten Locken ein guter Kletterer sei, ich glaube dass ich ihn ungläubig gemustert hätte. Louis sah in seinem Schlabberlook aus, wie ein Reggae-Fan. Jemand der das Leben so sehr locker nimmt. In seinem linken Chuck war vorne ein Loch. Am Handgelenk baumelten das Eintrittsband eines Festivals und ein Lederbändchen mit kleinen Holzperlen und einer schimmernden, kleinen Muschel. Louis war so ein Mensch den ich belächelte, ein Schluri, der sich durchs Leben lavierte und bei dem es den Begriff Ernst ganz sicher nicht mal im passiven Wortschatz geben konnte.
Wahrscheinlich hätte Louis ohne langes Nachdenken über mich auf einen Papierfetzen gekritzelt:
- Arschgelecktes Akademiker-Söhnchen
- Liest die financial times
- Konservativ bis zum Abwinken
- Will ganz sicher Jura studieren
- Musik: …, wenn überhaupt: Klassik und Oper!!!
- Freundin: blonder Pferdeschwanz, blaue Augen, Perlenkette und passende
Ohrringe.
- Sieht aus wie Gustav Gans, in jung, nur als Mensch.
Ich könnte Skifahren und meine Lieblingsurlaubsorte wären Südfrankreich und die Schweiz. Meine steinreichen Großeltern könnten nachts nicht schlafen, weil sie an ihre lachend an ihre Konten denken würden. Ich fände Politiker mit Zahnpasta-Lächeln und Gel in den Frisuren toll. Wie sollte ich ihm böse sein!? Dem Schluri, dem ich die Hand reichte, während wir auf dem Balkon standen. Ich fing seinen prüfendendmissbilligenden Blick auf, der meine Gelfrisur, den grauen Wollpulli, Blue-Jeans und Segelschuhe musterte. „Oh, schickes Poloshirt!“, sagte Louis, meinen Kragen anstarrend. Sein Blick ruhte irgendwo ganz weit weg, nicht hier. Innerlich regte sich in mir der Verdacht, dass mein Gegenüber gleich nach einer abwertenden Einschätzung wieder durch den Flur in Richtung Party laufen würde. Aus einem der offenen Fenster schallte das „Caminando por la calle“ der Gipsy Kings, unterlegt mit monotonen Trommelschlägen. Warum legte ich überhaupt Wert darauf, was der Typ von mir denken würde!?
Wir hatten uns vorgestellt. Ein breites Lachen hing leicht schief in Louis Gesicht, er schüttelte den Kopf, dann sagte er: „Man, du bist echt cool! Läufst in solchen Klamotten auf der Party rum, aber pisst schamlos vom Balkon!“ Das brach das Eis, während wir unter Lachen nach drinnen gingen, da wusste ich schon, dass wir beide auf dem guten Weg waren einen neuen Freund zu gewinnen.
Lange Rede, kurzer Sinn. Der Freund hätte nicht bei allem so richtig falsch gelegen, hätte es diesen Papierfetzen gegeben. Das ist viele Jahre her, wir waren beide gerade dabei an unserem Abi zu basteln. „Der Schluri“ machte sich voll Elan ans Medizinstudium und ich, ich begann Jura zu studieren, nicht um in Fußstapfen meines Vaters zu treten, sondern um die Welt ein bisschen besser zu machen. Ich wollte für die Rechtlosen auf dieser Welt antreten, mich für das Gute engagieren. Opa sah mich immer mit dem Blick eines Großinquisitors an, wenn ich ihm von meinen Plänen berichtete. Dem pensionierten Richter lagen meine Ideen ferner, als der Äquator. Ich habe ihn als strenggütigen Mann in Erinnerung. Mit hoher Stirn und klaren Augen, traurige leuchtendblaue Augen, unter den schmalen Brauen.
Ich weiß, dass mein Großvater in roter Robe das Recht vertrat, als Gesetze gegen und nicht für Menschen geschaffen wurden. Der Verstand meines Großvaters gleicht der Schärfe des Blicks eines Adlers. In seinem Geist jongliert er die Prüfschemata für Rechtsfälle. Alles lässt sich in juristische Formen pressen, so denkt Opa. Ich kenne ihn ja nicht anders. Heute reibe ich mich an seinem analytisch-präzisen Sachverstand. Mit Opa über seine Vergangenheit zu reden, das ist etwas, das überhaupt nicht geht, das habe ich in meiner rebellischen Jugend gemerkt. Da wären Themen wie Tod oder elendes Siechtum noch etwas, über das sich heiter an der Familientafel plaudern ließe.
„Das sind Opas dunkle Kammern, mein Schatz“, sagte Oma einmal zu mir, als sie mir zärtlich über den Kopf streichelte, mich an ihre warme Brust drückend. Opa war wegen einer Frage von mir in Rage geraten und hatte getobt. In ihm war innerlich ein Orkan losgebrochen. Für einen Augenblick schien es fast so, als würde der große, ruhige Mann die Contenance verlieren. „Vince“, begann er, neben Schreibtisch und Bücherregal stehend, „Vince, ich habe nie in meinem ganzen Leben einen Unschuldigen in den Tod geschickt!“, seine Unterlippe bebte und seine Pupillen flackerten. Er stand so verloren in dem hohen Raum mit den Stuckdecken. Der Chagall an der Wand. „Meine Schuld wiegt so schwer…“, gedankenverloren bildete der Mund seine Laute. Opas Schultern waren schlaff, seine Augen standen gefüllt voller Trauer, griffen mich aber nicht. Die Standuhr schlug dröhnend und Opa straffte sich wieder. Es roch nach gewienertem Parkett. Er versuchte ein zaghaftes Lächeln. „Es ist so, wie ich es gesagt habe. Hast du das verstanden!?“ Seine Kopfhaltung gab mir zu verstehen, dass das Gespräch beendet war. In wenigen Stunden würde mich Mama abholen kommen. Ich hatte verstanden. Ja, ich hatte verstanden.
Manchmal überlege ich mir, ob es wie ein riesiger Fluch auf mir liegen könnte, dass sich die Trauer von anderen Menschen vor mir ausbreitet, wie ein bunter Teppich auf einem Basar. Es ist der Blick hinter den Spiegel des anderen Menschen. Vielleicht ein ungewolltes Sezieren des Inneren? Ich kartiere die Seele eines anderen Menschen. Ich will mir selbst ein Bild meines Gegenüber machen. „Du hast einfach ein Rad ab“, sagt meine Freundin. Für solche Feststellungen jage ich die kreischende Blonde dann durch die Wohnung, was sie eher erfreut, als erschreckt.
Ich versuche immer das fantastische in Menschen zu entdecken, das hinter der Oberfläche liegt. Wenn ich dir schreibe, dass sich Louis wie ein Alpaka auf einer Party verhält, dann nur deshalb, weil ich ihn sehr gut kenne. Er nimmt Witterung auf und wägt ab. Ist er sicher, dann stürzt er sich ins Getümmel. Ich habe mit Louis zusammen so viel erlebt, wir haben ein dichtes Band zwischen unseren Leben geknüpft, über alle Verschiedenheit hinweg. Aus den beiden „Balkonpissern“ sind enge Freunde geworden, die gemeinsam Südamerika bereisten. Begeistert kochten und manche Weinflasche zusammen leerten. Ich bin als „Schluri“ mit ihm auf einem Reggae-Festival gewesen, und er war mit mir in der Oper. Reggae-Style unter dem Sakko. Wir haben die Mauern unserer Welten eingerissen und uns gegenseitig den Horizont geweitet. Ich habe gelernt, dass das Leben keine verbohrte Veranstaltung sein muss, wo jeder mit einem Stock im Arsch herumläuft, gierig aufs Geld schielt, mit dem Tunnelblick: mein Auto, mein Haus, mein Boot, meine Bilderbuch Familie…
Louis meinte einmal zu mir, dass sich im Leben so viel Schönes finden lassen würde. Es gäbe sicher mehr Dinge über die wir lachen könnten, als solche die uns das Herz schwer werden ließen. Wenn der Freund etwas hat, dann neben all seinen guten und weniger guten Eigenschaften, diesen besonderen Blick auf das Leben. Seine ganze Art hat etwas so erfrischendes und einnehmendes.
Er entspannt Situationen in denen ich Hasenfüße kriege durch ein entwaffnendes „Pass auf Digger, wir wollen hier keinen Stress!“, und, man glaubt es kaum, wir setzen unseren Weg durch den Kiez fort, mit allen Zähnen und heilen Knochen. Im Gegenzug zeige ich dem Freund etwas von meiner Welt. Ich sehe ihn noch staunend im Museum stehen. Er war angetan von den Fragmenten der Geschichte, die hinter dem Glas lagen.
Wir fanden immer gemeinsam einen Konsens. Ich kippte einen großen Schluck Cola in den französischen Rotwein und er aß feines Entrecôte, mit Mayo zwischen Brötchenhälften. Das war während einer unserer Reisen nach Südfrankreich. Kennst du das azurblaue Meer dort im Süden, den Charme der Hafenstädte und oh là là die Französinnen oder die Franzosen? Ich sehe uns noch dort unten sitzen, unter der brennenden französischen Sonne. Louis wollte nicht, dass ich ihm mit meiner Kreditkarte die Zugfahrkarte zurück bezahlte, weil er sein Ticket verloren hatte. Ich nannte ihn einen idiotischen Stierkopf, er schimpfte mich gestikulierend einen missionarischen Geldsack. Wir stritten lautstark direkt an der Kaimauer. Schließlich trampten wir gemeinsam zurück, zwei Freunde, wie Pech und Schwefel. Ich sehe noch die südfranzösische Sonne über uns. Sie gießt ihre Strahlen wie Honig über den Lavendelfeldern ausgießt.
Ich fühle die stickige Enge mancher Autos, die uns mitnahmen.
Wir machten schon Witze, dass wir uns später mal unsere Kinder mit gegenseitigen Versprechungen schicken wollten. Seine Racker würden mit großen Augen vor meiner Tür stehen, weil sie es kaum noch erwarten konnten, dass meine Familie mit ihnen all die teuren Sachen machen würde, die ihr Vater versprochen hatte. Eis so viel sie wollten, gemäß des Mottos: „Was nix kostet, kann nicht gut sein!“.
Meine Blagen würden wahrscheinlich nicht nur von den Reggae-Festivals und der chilligen Musik große Augen bekommen, die der alte Freund sicher auch als Arzt nicht missen wollen würde. Meine Frau würde wegen des unverantwortlichen Handelns mit dem Scheidungsanwalt drohen. Sie zetert laut herum, und fährt dann mit den Kindern zu ihrer Mutter. Es könnte aber auch sehr viel schöner kommen, dass wünsche ich allen Beteiligten.
Wenn ich hier heute sitze und durch meine dicken Mappen blättere, die ein riesen Regal füllen, wenn ich all die Texte lese, die nichts mit juristischen Fällen zu tun haben, keine Aktenzeichen tragen, dann denke ich über die Texte nach die mir die Fantasie geholfen hat zu schreiben. Ich habe nie einen Text über mich selbst geschrieben, es waren vielleicht Teile meines Lebens enthalten, in den Kurzgeschichten. Meine Freunde sind es gewesen, die mich über das Leben haben nachdenken lassen.
Über Begegnungen, die Liebe, das Gefühl der Verlassen – Seins, über Lachen und Weinen. Vielleicht ist mein Blick auf die Menschen die mich umgeben auch der Blick auf mich selbst. So wird es sein. „Schreib auch einmal eine Geschichte über mich! Aber nicht jetzt.“, diesen Auftrag des Freundes habe ich nicht vergessen. Für meinen Freund zählt der Augenblick, den will er genießen und auskosten. Weshalb solle über etwas geschrieben werden, das gerade schön-geil sei? Die Worte auf dem Papier sollte man sich lieber aufsparen. Es sind meine Freunde gewesen die mich über das Leben haben nachdenken lassen. Über Begegnungen, die Liebe, das Gefühl des Verlassen-Seins, über Lachen und Weinen. In den Gesichtern meiner Freunde sah ich oft das Gefühl des Zweifelns, spürte die Zerrissenheit tief in mir drin, wie ein Schluck zu heißen Tees. Sie haben die Fragen angerührt, warum ich etwas mache, wo die Motivation liegt.
Liegt sie draußen, weil ich der Jurist werden will, den Großvater und Papa gerne sehen würden, oder ist es mein eigener Wunsch, der sehr, sehr viel schwerer wiegt. Der Austausch zwischen Louis und mir ist ein sehr unbefangener, ich weiß was ihn in der Seele bewegt. Er weiß es bei mir.
Keiner meiner Freunde steht mir näher. Ich kann es nicht leugnen, dass er mir erst etwas befremdlich vorkam. Es war wie an einer Stelle in „Der Kleine Prinz“, ein Buch das wir beide kannten. Es ist die Stelle an der sich der kleine Prinz und der Fuchs zum ersten Mal begegnen. Die Sprache sei die Quelle der Missverständnisse, kann es sein, dass Louis und ich deshalb damals unsere Vorurteile für uns behielten, als wir uns auf dem Balkon trafen?
Ich will dir etwas über die Verrücktheit des Lebens schreiben, über die Zufälle, bei denen sich selbst Gott nachdenklich an der Stirn kratzen würde, wenn es ihn gibt und Er (oder Sie?) nicht auf Dauerurlaub ist. Es sind die Situationen in denen uns das Gute widerfährt, jemand uns anlächelt oder uns die Liebe das Herz puckern lässt. Es ist das Banale des Lebens. Die Würze unserer Existenz. Ich meine gute Zufälle, die uns innerlich froh machen, die unsere Seele wärmen; was den zufälligen Blick des Lehrers schon ausschließt, während wir gerade anteilnehmen, am Klausurwissen des Nachbarn. Das schließt auch Fettnäpfchen und Fritteusen Sprünge aus, die ganzen Jauchebäder, die das Leben so bereit hält.
Wie kann ich bei meinen Kindern dafür sorgen, dass sie keine verbitterten Menschen werden, die in einer Diktatur dafür sorgen, dass dem „Recht“ Geltung verschafft wird? Wahrscheinlich am ehesten dadurch, dass ich ihnen meine Liebe zum Leben vorlebe. Das schließt nicht aus, dass es hin und wieder gehörig „Scheiße laufen kann“, wie Louis sagen würde. Ich glaube dass ich meine Kinder am Leben von Louis teilhaben lassen würde, dass ihnen so ein austarieren gelingen würde. Alle Menschen wollen Sicherheit in ihrem Leben und mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen, der ihnen die Welt bedeutet. Louis hat etwas von dem weitergegeben, was ich als Elixier des Lebens bezeichnen würde. Er teilt seine Freundschaft mit mir.
Wir tangieren so viele Leben anderer Menschen, aber wir schreiben zu wenig darüber, weil wir keine Zeit haben oder weil uns diese Begegnungen egal sind, und wir im Trott des Lebens schwimmen.
Wir verlieren im Laufe unseres Lebens die Fähigkeit uns zu wundern. Das sehe ich heute so. Wie Einsiedlerkrebse rasen viele durch ihre Leben, die so einzigartig und schön sind, immer auf der Suche nach einem neuen Gehäuse in das sie sich zwängen können. Wenn ich an das Wunderbare glaube, dann bin ich kein Idiot, sondern ein Mensch der dem Leben zugewandt ist. Louis und ich haben neben allem was wir als Freunde taten nie vergessen, was Antoine de Saint Exupéry, uns durch seinen Protagonisten mitzuteilen versuchte, denen die es hören wollten. Wir stapften gemeinsam über mückenschwirrende Pfade in Panama, schliefen in kargen Hostels und aßen Pfannkuchen mit Sirup und frischen Bananenstücken. Louis und ich rannten durch den TGV in Frankreich, als in einem Wagen ein medizinischer Notfall aufgetreten war und aus dem Lautsprecher, mehrmals eindringlich, der Ruf nach Hilfe plärrte. Da knieten wir zwei zwischen den Sitzreihen und bemühten uns, dass das Herz einer alten Dame wieder schlug. Uns rann der Schweiß, daran erinnere ich mich. Im Waggon herrschte fast eine raumfüllende Stille, nur eine Frau betete halblaut.
Neben unserem ehrenamtlichen Tun in unserer Freizeit half uns, dass die Franzosen in ihrem Schnellzug einen automatischen Defibrillator und einen gut ausgestatteten Notfallrucksack vorhielten. Was könnte der schönere Beginn einer langen Wandertour sein, als das Retten eines Lebens?
Wir versprachen uns gegenseitig, dass wir unseren Kindern voneinander erzählen wollten, hatten ja schon geplant, dass wir sie beim anderen in den Ferien parken würden. Dass unsere Freundschaft sehr schwer wog, dass wussten wir. Es gab damals keine Kristallkugel in die wir hätten sehen wollen, was uns die Zukunft bringt. Wir schlürften das Leben in vollen Zügen, standen am Beginn unseres Studentenlebens. Mehr oder minder zerrieben wir uns in unserem Studium. Ich paukte Paragraphen und Prüfschemata für juristische Sachverhalte, saß spätnachts in der Unibibliothek. Mein Kopf war zum Bersten gefüllt mit Worthülsen und Beamtendeutsch. Louis versackte hinter seinen Anatomiebüchern und drückte sich kleinste Nervenfasern durch die rot-müden Augen ins Gedächtnis. Es gelang uns ein kleines Stückchen Himmel über uns freizuhalten, was wir für Unternehmungen nutzen konnten.
Es war eine Zeit des Umbruchs, in der meine Freundin abhandenkam. Sie verliebte sich in jemand anderen, und trat mich in einen endlosen Abgrund. Ich heulte Rotz und Wasser, verfluchte die Welt und mich. Der Wunsch kam in mir auf, dass ich einfach auf dem Bett liegenbleiben wollte, um nie wieder auf zu stehen. Meine Welt war aus den Angeln gekippt. Ich schwebte schwerelos im Raum. Das Ende dieser Liebe hatte alles vertauscht, oben war unten und umgekehrt. Louis war es, der neben meinem Bett auftauchte, ungefragt. „Vincemann“, sagte er. „Vincemann, du verkommst zum Schluri!“, blitzschnell packte er den Schlafsack auf dem ich lag und zog daran, blitzschnell. Ich fiel krachend auf den Holzboden. „Scheiße!“, fluchte ich, dann rappelte ich mich langsam auf. Das war Ermunterung und Lektion in einem gewesen, wie Louis mir zeigte, wie man Wirrnissen im Leben begegnen kann. Hinfallen und wieder aufstehen!
Ich habe meinem Freund versprochen, dass ich die zu schreibende Geschichte einem Menschen geben werde, von dem ich vermute dass er die Berg und Talfahrten des Lebens kennt. Vielleicht jemand, der wie wir, den kleinen Prinzen kennt. Ich weiß nicht wie dein Verhalten auf Parties ist. Du kennst bestimmt die süße Bitterkeit des Lebens, all seine bunten Facetten. Die kleinen und großen Aufreger. Kann sein dass du manches in der Welt mit den Augen des kleinen Prinzen zu sehen versuchst. Du lachst lieber, anstatt zu weinen, wobei dir der salzig brennende Geschmack kalter Tränen nicht unbekannt ist? Dann lohnt sich meine Mühe des Tippens und Louis lacht. Dann hast du den Großteil des Textes schon hinter dir, und ich will dir noch was über ein Wunder schreiben, über eine seltsame Begebenheit.
Sie hat mit einem noch größeren Schmerz zu tun, als ich ihn bis zu diesem Tag erlebt hatte. Fast zehn Jahre sind seitdem vergangen. Ich fiel in tiefste Nacht mitten an einem Augusttag, um 16:03 Uhr. Ich sehe noch das Handydisplay neben mir blinken. Es war genau sechszehn Uhr und drei Minuten. Ein Anruf aus Frankreich. Die gesamte Mischung aus diesen Gefühlen hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Jedes Mal erinnert mich der Blick auf die Karte daran, die Louis von seiner Motorradfahrt durch die Provence schickte. Vorne lachen die schönsten Flecken des Landes und auf der Rückseite ist die leicht gehetzte Handschrift des Freundes. Wir waren ein Jahr zuvor noch dort gewesen, zum siebten Mal. Wir zelebrierten unser Ritual: am Strand sitzen und Baguette mit würzigem Käse essen, dazu schweren Rotwein und das gute Gefühl, dass wir diesen schönen Moment mit einem Menschen teilten, den jeder gerne mochte.
Das war also einer dieser Augenblicke von denen mir Frau Mölters immer, als Kind sagte: „Männeken, watt is datt Leben watt fein!“, dann verlor sie sich mit dem roten Staubsauger irgendwo in unserem Haus. Von ihr ließ sich Papa sogar in ihrer verschmitzten Art sagen, dass er die Krawatte wechseln sollte, wenn es in seinem Sinne wäre, dass die Bäume ihrer Blätter behielten, wenn er aus der schmiedeeisernen Tor trat. Sie war die gute Seele die Mama bei der Hausarbeit unterstützte und ich halte auch heute noch große Stücke auf die Frau. Die Frau mit ihren blauen Latschen war immer umgeben von einer dezenten Wolke kölnisch Wasser Geruchs. Bei einem Gartenfest meiner Eltern kam sie in einem geblümten Kleid und brachte als Präsent einen Strauß lila Blumen mit. „Sehr unpassend gekleidet“, wie Opa meinte. „Ich freue mich, dass Frau Mölters mit uns feiert“, entgegnete Mama, in ihrem dunklen Kleid mit der schönen Schleife. Mama trug die Haare in einer Steckfrisur, was sie noch schöner aussehen ließ, mit ihren dunkelblonden Haaren und ihren ruhigen grünen Augen. Ich stimmt Mama freudig zu und griff wie zum Beweis nach der kräftigen Hand von Frau Mölters.
Ich schreibe dir das mit der guten Frau Mölters, damit du dir ein Bild machen kannst, wie wichtig sie mir war. Sodass ich auch, lange nach meiner Kindheit an sie dachte. Es war ungefähr ein knappes Jahr vor dem verhängnisvollen Tag im August, als Louis und ich unsere Wanderschuhe auszogen. Wir waren mehr als vier Stunden stramm gewandert und gönnten uns eine längere Pause. Wir saßen an einer schmalen Bergstraße in einer kleinen Hütte, drinnen stand ein wackliger Holztisch und irgendwer hatte seine Wanderkarte hier vergessen. Rings um lag die Landschaft unter einer leicht nebligen Decke, nein, eher ein Flimmern, wie über heißem Asphalt nur dichter. Wir wünschten uns eine Dusche herbei. Die T-Shirts klebten unangenehm am Rücken. Bei jeder Bewegung zog es im Körper. In der Phase der Entspannung schnitt Louis mit der Schere seine Multitools ein Stück gelbes Band ab, das er im Rucksack fand. „Sieht aus wie der Schal den der kleine Prinz trägt“, witzelte er, dann schnitt er noch ein Dreieck aus dem Band heraus. Wir lachten beide als wir in meinem Buch guckten, dass ich immer mit auf unsere Touren nahm. Die kleine, gebundene Ausgabe von dem begeisterten Piloten, dessen kleiner Prinz jemand ein Schaf zeichnen lässt. Dieser kleine Prinz der sich so um seine Rose sorgt.
Louis hatte die Idee gehabt, dass wir mein Buch mit einer Widmung versehen in der Hütte deponieren könnten. Wäre es so unmöglich dass sich ein anderer Mensch darüber freuen könnte? Du kommst total müde in eine alte Hütte und findest ein Buch, eingepackt in einer Gefriertüte. Gesagt getan. Das war alles vor diesem verdammten August gewesen.
Ein Jahr nach der stillstehenden Uhrzeit 16:03, saß ich im wieder mal im Zug in den Süden der Grande Nation.
Draußen war Sommer und mir das Herz schwer. Ich saß im Zugabteil, mir schräg gegenüber, eine junge Frau. Ich schätzte sie etwas jünger als ich. Sie schlief. Wir hatten uns kurz begrüßt, als sie ins Abteil kam und einen Rucksack nach oben wuchtete. Eine zierliche Wanderin, die ausgiebig gegähnt hatte. Ihre Augen hatten eine Spur Türkis in ihrem Blau. Die Augenbrauen waren zart geschwungen, das fiel mir an ihr auf. Und sie hatte Grübchen am Kinn, wenn sie lachte. Sie kam auch aus Deutschland, war aber schon länger unterwegs gewesen als ich. Ich erfuhr dass sie Studentin sei, und in die Provence fahre, weil sie dort abschalten könne, das Essen und den Wein dort liebe, und auf der Suche nach etwas sei. Dann erzählte ich ihr, dass es mich immer wieder an diesen Ort zöge, um etwas nicht zu vergessen.
Da nickte sie neugierig und ihre Ohrringe klimperten. Ihre Lippen umspielte ein zögerndes Lachen, dann wurde ihr Blick ernst und sie schwieg. Leere Bahnhöfe rasten vorbei, der Zug holperte über Brücken, einmal stoppte er abrupt; entschloss sich aber nach einer halben Ewigkeit ruckelnd wieder Fahrt auf zu nehmen. Wehmütig dachte ich im Schlaf an Wein und Käse, etwas weckte mich auf, einfach so.
Ich schlug die Augen auf, starrte Lea-Marie an, so hieß sie. Ungläubig legte sie das Buch neben sich, in dem sie gerade las. Strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und beugte sich in meine Richtung. Mir wurde heiß-kalt, ein Schauer umfloss mein Herz. Ich schlug die Hände vor mein Gesicht, und merkte wie mich die dunkelblonde mit einer Mischung aus Skepsis und Verwirrung beobachtete. Mir war es peinlich, dass ich weinte. Ich hörte Louis mit seiner tiefen Stimme in meiner Erinnerung reden, und sprach es aus:
„Lo más importante no se ve con ojos sino con el corazón.”
Lea-Maries Blick fixierte mich zögernd, als sie tastend nach ihrem Buch griff. Dann pendelten ihre schönen Augen zwischen dem geöffneten Buch und meinen Augen hin und her.
Sie wusste nicht was sie davon halten sollte, von der gehetzten Handschrift und meiner Rezitation. Vorne im Buchdeckel stehen zwei Namen prophezeite ich: Vince und Louis. Einer mit blauer Tinte geschrieben, der andere mit einem grünen Filzliner, wie das Zitat. „Nein“, hauchte sie und streckte mir das Buch entgegen. Ich berührte das abgegriffene Buchcover wie einen gerade geborgenen Schatz, hielt es sanft wie ein Baby in meinen Händen. Ich war gerührt und ließ meine Tränen fließen. Ich biss mir auf die Unterlippe als ich las: Vince und Louis und Lea-Marie. Drei Namen, der letzte mit schwarzem Kuli geschrieben. Immer noch völlig überrascht hatte Lea-Marie ihre Hände an ihre Wangen gelegt und sagte mehrmals „Puh!“ und „Ich fasse es nicht!“
Auf mehreren Seiten hatte ich eigene Gedanken über die Freundschaft und über die Liebe aufgeschrieben. Randnotizen aus der Vergangenheit. Es sind Blitzlichter meiner Gedanken und Gefühle. Das Buch habe ich mit meinem eigenen Leben gefüllt. Ich habe an die Verrücktheit des Lebens geglaubt, nachdem ich einen Freund traf. Ich bin weder besser noch schlechter, weil ich Louis kennen lernen durfte, aber ich bin reicher. Reicher an Erfahrungen und Erinnerungen in meinem Herzen, und darauf kommt es an in unserem Leben. Darauf, und dass wir nicht nur an Wunder im Leben glauben, sondern dass wir sie möglich werden lassen.
EPILOG:
Fünfzehn Jahre sind vergangen seit mich Lea-Marie gefunden hat. Elf seit ich Louis in der engen Serpentine verloren habe. Wir reisen in einer Höhe von ca. 10.000 Metern, was in etwa 32.808 Fuß entspricht. Unter uns liegt eines der Weltmeere, und bald werden wir in Deutschland landen. Unsere Familien freuen sich auf uns, sehen sie uns doch jetzt sehr viel weniger. Mein Opa hat sich mit der Tatsache ausgesöhnt, dass ich Rechtlosen in einem fernen Land zu ihrem Recht verhelfe. Meine beste Freundin stärkt mir den Rücken und berät eine große Hilfsorganisation als Ärztin. Wir werden mit dem Zug in die Provence weiterfahren, uns dort einen Mietwagen nehmen und in einem urigen Hotel wohnen. Lea-Marie und ich werden bei einem Glas Wein wieder in dem abgegriffenen Buch lesen. Wir werden Käse und Melonenstücke genießen. Und wir gehen einem alten Freund von mir „Hallo“ sagen, der neben seinen Großeltern auf einem kleinen Hügel beerdigt wurde. Rechts von ihm steht eine krumme Eiche. In der Luft hängt der Duft nach Hochsommer und die Zikaden zirpen. Heute werde ich dem Freund leise sagen können:
„Deine Geschichte ist fertig und verschickt! Lea-Marie und ich haben in unserem Buch gelesen. Du fehlst mir immer noch, aber ich bin verdammt froh dass du in mein Leben gerannt bist, damals auf dem Balkon. Du weißt schon? Und weißt du was!? Dir entgeht was, so richtig viel mein Freund, weil ich sie dir nicht hierlassen kann…“
Über uns hängt der Duft nach Lavendel und staubigem Boden. Leise lässt der warme Wind die Eichenblätter tanzen. Unsere Kinder toben durchs Gras, bevor wir sie in den Wagen scheuchen. Ich küsse Lea-Marie ganz sanft. Schnell verliert sich das Auto auf der kurvigen Straße. Die Luft flirrt unter der Sonne. À bientôt Provence!
für T.V.
„Der Zauber steckt immer im Detail.“
(Theodor Fontane)
Sie waren beide in Südfrankreich gewesen oder vielleicht ist es genauer, wenn ich dir schreibe, dass sie eigentlich zu dritt waren. Vielleicht wunderst du dich dass ich dir überhaupt schreibe, was das alles soll? Du kennst keinen Vince Yager, und ich kenne dich nicht, aber dennoch tippe ich dir diese Zeilen in den Laptop. Vielleicht hast du überhaupt keine Zeit zum Lesen, weil die Schule stresst oder der Job nervt? Vielleicht hast du gar keinen Bock auf andere Leute, willst einfach deine Ruhe? Dann wärst du so ähnlich wie Louis. Ich meine nicht genauso wie er, aber du würdest dich auf einer Party mit ihm verstehen und für ein, zwei und mehr Bier bei ihm stehen bleiben. Du würdest ihn schnell entdecken, er steht meistens erst etwas abseits, um sich dann ins Getümmel der Leute zu stürzen.
Louis überragt mich um einen halben Kopf, und ich bin schon nicht klein. Die Stimme des Freundes ist sehr tief, sie passt irgendwie so gar nicht zu der sonst hager wirkenden Gestalt.
Als ich den Freund zum ersten Mal sah, da röhrten bei einer Party die Bassröhren. Die vier Zimmer der Wohnung hätten wegen Überfüllung schon längst schließen können. Im Flur herrschte ein tanzwütiges Gedränge, an Enge und Leidenschaft kaum zu überbieten. Die Musik streichelte hämmernd meine Ohren, und legte sich pulsierend zwischen das Wabernde im Kopf. Dieses matte Gefühl zu vieler Drinks, und zu wenig kalter Würstchen und Chips. Lachende, rotverschwitzte Gesichter zogen vorbei. In der Wohnung stand der Geruch aus warmen Zigarettenrauch, Schweiß und Parfüm, fest wie ein Monolith.
Die Toilettentür widersetzte sich allen Öffnungsversuchen. Wahrscheinlich quälte sich dort drinnen jemand mit dem irgendwas ab, was ein schnelles Verlassen des Bades verhinderte. Ich wollte es nicht wissen, weil die Drinks ihren Tribut forderten. Mich interessierte auch nicht das heißere Flüstern und Kichern hinter der Tür. Es eilte, nach wenigen wackligen Schritten fand ich einen langen Balkon, auf der Seite, wo in der Ferne der schummrig erleuchtete Hafen lag. Es war eisig kalt, der Himmel lag dunkel über mir, während ich auf das Grundstückte pinkelte, was Bauschutt und Müll bedeckten. Irgendwo fiepte schrill eine Ratte.
„Man, scheiße, muss ich pissen!“, das waren die ersten Worte der Begegnung zwischen Louis und mir. Er hatte mich nicht entdeckt, stand still mit einem Stoßseufzer der Erleichterung am rostigen Geländer. Seine Augen schweiften über die frühmorgendliche Silhouette der tristen Fassaden, dann bemerkte er mich. Ohne ein Wort miteinander gewechselt zu haben, blickten wir uns an. Hättest du mich an dem frühen Morgen gefragt, ob der übernächtigte Typ mit den dichten Locken ein guter Kletterer sei, ich glaube dass ich ihn ungläubig gemustert hätte. Louis sah in seinem Schlabberlook aus, wie ein Reggae-Fan. Jemand der das Leben so sehr locker nimmt. In seinem linken Chuck war vorne ein Loch. Am Handgelenk baumelten das Eintrittsband eines Festivals und ein Lederbändchen mit kleinen Holzperlen und einer schimmernden, kleinen Muschel. Louis war so ein Mensch den ich belächelte, ein Schluri, der sich durchs Leben lavierte und bei dem es den Begriff Ernst ganz sicher nicht mal im passiven Wortschatz geben konnte.
Wahrscheinlich hätte Louis ohne langes Nachdenken über mich auf einen Papierfetzen gekritzelt:
- Arschgelecktes Akademiker-Söhnchen
- Liest die financial times
- Konservativ bis zum Abwinken
- Will ganz sicher Jura studieren
- Musik: …, wenn überhaupt: Klassik und Oper!!!
- Freundin: blonder Pferdeschwanz, blaue Augen, Perlenkette und passende
Ohrringe.
- Sieht aus wie Gustav Gans, in jung, nur als Mensch.
Ich könnte Skifahren und meine Lieblingsurlaubsorte wären Südfrankreich und die Schweiz. Meine steinreichen Großeltern könnten nachts nicht schlafen, weil sie an ihre lachend an ihre Konten denken würden. Ich fände Politiker mit Zahnpasta-Lächeln und Gel in den Frisuren toll. Wie sollte ich ihm böse sein!? Dem Schluri, dem ich die Hand reichte, während wir auf dem Balkon standen. Ich fing seinen prüfendendmissbilligenden Blick auf, der meine Gelfrisur, den grauen Wollpulli, Blue-Jeans und Segelschuhe musterte. „Oh, schickes Poloshirt!“, sagte Louis, meinen Kragen anstarrend. Sein Blick ruhte irgendwo ganz weit weg, nicht hier. Innerlich regte sich in mir der Verdacht, dass mein Gegenüber gleich nach einer abwertenden Einschätzung wieder durch den Flur in Richtung Party laufen würde. Aus einem der offenen Fenster schallte das „Caminando por la calle“ der Gipsy Kings, unterlegt mit monotonen Trommelschlägen. Warum legte ich überhaupt Wert darauf, was der Typ von mir denken würde!?
Wir hatten uns vorgestellt. Ein breites Lachen hing leicht schief in Louis Gesicht, er schüttelte den Kopf, dann sagte er: „Man, du bist echt cool! Läufst in solchen Klamotten auf der Party rum, aber pisst schamlos vom Balkon!“ Das brach das Eis, während wir unter Lachen nach drinnen gingen, da wusste ich schon, dass wir beide auf dem guten Weg waren einen neuen Freund zu gewinnen.
Lange Rede, kurzer Sinn. Der Freund hätte nicht bei allem so richtig falsch gelegen, hätte es diesen Papierfetzen gegeben. Das ist viele Jahre her, wir waren beide gerade dabei an unserem Abi zu basteln. „Der Schluri“ machte sich voll Elan ans Medizinstudium und ich, ich begann Jura zu studieren, nicht um in Fußstapfen meines Vaters zu treten, sondern um die Welt ein bisschen besser zu machen. Ich wollte für die Rechtlosen auf dieser Welt antreten, mich für das Gute engagieren. Opa sah mich immer mit dem Blick eines Großinquisitors an, wenn ich ihm von meinen Plänen berichtete. Dem pensionierten Richter lagen meine Ideen ferner, als der Äquator. Ich habe ihn als strenggütigen Mann in Erinnerung. Mit hoher Stirn und klaren Augen, traurige leuchtendblaue Augen, unter den schmalen Brauen.
Ich weiß, dass mein Großvater in roter Robe das Recht vertrat, als Gesetze gegen und nicht für Menschen geschaffen wurden. Der Verstand meines Großvaters gleicht der Schärfe des Blicks eines Adlers. In seinem Geist jongliert er die Prüfschemata für Rechtsfälle. Alles lässt sich in juristische Formen pressen, so denkt Opa. Ich kenne ihn ja nicht anders. Heute reibe ich mich an seinem analytisch-präzisen Sachverstand. Mit Opa über seine Vergangenheit zu reden, das ist etwas, das überhaupt nicht geht, das habe ich in meiner rebellischen Jugend gemerkt. Da wären Themen wie Tod oder elendes Siechtum noch etwas, über das sich heiter an der Familientafel plaudern ließe.
„Das sind Opas dunkle Kammern, mein Schatz“, sagte Oma einmal zu mir, als sie mir zärtlich über den Kopf streichelte, mich an ihre warme Brust drückend. Opa war wegen einer Frage von mir in Rage geraten und hatte getobt. In ihm war innerlich ein Orkan losgebrochen. Für einen Augenblick schien es fast so, als würde der große, ruhige Mann die Contenance verlieren. „Vince“, begann er, neben Schreibtisch und Bücherregal stehend, „Vince, ich habe nie in meinem ganzen Leben einen Unschuldigen in den Tod geschickt!“, seine Unterlippe bebte und seine Pupillen flackerten. Er stand so verloren in dem hohen Raum mit den Stuckdecken. Der Chagall an der Wand. „Meine Schuld wiegt so schwer…“, gedankenverloren bildete der Mund seine Laute. Opas Schultern waren schlaff, seine Augen standen gefüllt voller Trauer, griffen mich aber nicht. Die Standuhr schlug dröhnend und Opa straffte sich wieder. Es roch nach gewienertem Parkett. Er versuchte ein zaghaftes Lächeln. „Es ist so, wie ich es gesagt habe. Hast du das verstanden!?“ Seine Kopfhaltung gab mir zu verstehen, dass das Gespräch beendet war. In wenigen Stunden würde mich Mama abholen kommen. Ich hatte verstanden. Ja, ich hatte verstanden.
Manchmal überlege ich mir, ob es wie ein riesiger Fluch auf mir liegen könnte, dass sich die Trauer von anderen Menschen vor mir ausbreitet, wie ein bunter Teppich auf einem Basar. Es ist der Blick hinter den Spiegel des anderen Menschen. Vielleicht ein ungewolltes Sezieren des Inneren? Ich kartiere die Seele eines anderen Menschen. Ich will mir selbst ein Bild meines Gegenüber machen. „Du hast einfach ein Rad ab“, sagt meine Freundin. Für solche Feststellungen jage ich die kreischende Blonde dann durch die Wohnung, was sie eher erfreut, als erschreckt.
Ich versuche immer das fantastische in Menschen zu entdecken, das hinter der Oberfläche liegt. Wenn ich dir schreibe, dass sich Louis wie ein Alpaka auf einer Party verhält, dann nur deshalb, weil ich ihn sehr gut kenne. Er nimmt Witterung auf und wägt ab. Ist er sicher, dann stürzt er sich ins Getümmel. Ich habe mit Louis zusammen so viel erlebt, wir haben ein dichtes Band zwischen unseren Leben geknüpft, über alle Verschiedenheit hinweg. Aus den beiden „Balkonpissern“ sind enge Freunde geworden, die gemeinsam Südamerika bereisten. Begeistert kochten und manche Weinflasche zusammen leerten. Ich bin als „Schluri“ mit ihm auf einem Reggae-Festival gewesen, und er war mit mir in der Oper. Reggae-Style unter dem Sakko. Wir haben die Mauern unserer Welten eingerissen und uns gegenseitig den Horizont geweitet. Ich habe gelernt, dass das Leben keine verbohrte Veranstaltung sein muss, wo jeder mit einem Stock im Arsch herumläuft, gierig aufs Geld schielt, mit dem Tunnelblick: mein Auto, mein Haus, mein Boot, meine Bilderbuch Familie…
Louis meinte einmal zu mir, dass sich im Leben so viel Schönes finden lassen würde. Es gäbe sicher mehr Dinge über die wir lachen könnten, als solche die uns das Herz schwer werden ließen. Wenn der Freund etwas hat, dann neben all seinen guten und weniger guten Eigenschaften, diesen besonderen Blick auf das Leben. Seine ganze Art hat etwas so erfrischendes und einnehmendes.
Er entspannt Situationen in denen ich Hasenfüße kriege durch ein entwaffnendes „Pass auf Digger, wir wollen hier keinen Stress!“, und, man glaubt es kaum, wir setzen unseren Weg durch den Kiez fort, mit allen Zähnen und heilen Knochen. Im Gegenzug zeige ich dem Freund etwas von meiner Welt. Ich sehe ihn noch staunend im Museum stehen. Er war angetan von den Fragmenten der Geschichte, die hinter dem Glas lagen.
Wir fanden immer gemeinsam einen Konsens. Ich kippte einen großen Schluck Cola in den französischen Rotwein und er aß feines Entrecôte, mit Mayo zwischen Brötchenhälften. Das war während einer unserer Reisen nach Südfrankreich. Kennst du das azurblaue Meer dort im Süden, den Charme der Hafenstädte und oh là là die Französinnen oder die Franzosen? Ich sehe uns noch dort unten sitzen, unter der brennenden französischen Sonne. Louis wollte nicht, dass ich ihm mit meiner Kreditkarte die Zugfahrkarte zurück bezahlte, weil er sein Ticket verloren hatte. Ich nannte ihn einen idiotischen Stierkopf, er schimpfte mich gestikulierend einen missionarischen Geldsack. Wir stritten lautstark direkt an der Kaimauer. Schließlich trampten wir gemeinsam zurück, zwei Freunde, wie Pech und Schwefel. Ich sehe noch die südfranzösische Sonne über uns. Sie gießt ihre Strahlen wie Honig über den Lavendelfeldern ausgießt.
Ich fühle die stickige Enge mancher Autos, die uns mitnahmen.
Wir machten schon Witze, dass wir uns später mal unsere Kinder mit gegenseitigen Versprechungen schicken wollten. Seine Racker würden mit großen Augen vor meiner Tür stehen, weil sie es kaum noch erwarten konnten, dass meine Familie mit ihnen all die teuren Sachen machen würde, die ihr Vater versprochen hatte. Eis so viel sie wollten, gemäß des Mottos: „Was nix kostet, kann nicht gut sein!“.
Meine Blagen würden wahrscheinlich nicht nur von den Reggae-Festivals und der chilligen Musik große Augen bekommen, die der alte Freund sicher auch als Arzt nicht missen wollen würde. Meine Frau würde wegen des unverantwortlichen Handelns mit dem Scheidungsanwalt drohen. Sie zetert laut herum, und fährt dann mit den Kindern zu ihrer Mutter. Es könnte aber auch sehr viel schöner kommen, dass wünsche ich allen Beteiligten.
Wenn ich hier heute sitze und durch meine dicken Mappen blättere, die ein riesen Regal füllen, wenn ich all die Texte lese, die nichts mit juristischen Fällen zu tun haben, keine Aktenzeichen tragen, dann denke ich über die Texte nach die mir die Fantasie geholfen hat zu schreiben. Ich habe nie einen Text über mich selbst geschrieben, es waren vielleicht Teile meines Lebens enthalten, in den Kurzgeschichten. Meine Freunde sind es gewesen, die mich über das Leben haben nachdenken lassen.
Über Begegnungen, die Liebe, das Gefühl der Verlassen – Seins, über Lachen und Weinen. Vielleicht ist mein Blick auf die Menschen die mich umgeben auch der Blick auf mich selbst. So wird es sein. „Schreib auch einmal eine Geschichte über mich! Aber nicht jetzt.“, diesen Auftrag des Freundes habe ich nicht vergessen. Für meinen Freund zählt der Augenblick, den will er genießen und auskosten. Weshalb solle über etwas geschrieben werden, das gerade schön-geil sei? Die Worte auf dem Papier sollte man sich lieber aufsparen. Es sind meine Freunde gewesen die mich über das Leben haben nachdenken lassen. Über Begegnungen, die Liebe, das Gefühl des Verlassen-Seins, über Lachen und Weinen. In den Gesichtern meiner Freunde sah ich oft das Gefühl des Zweifelns, spürte die Zerrissenheit tief in mir drin, wie ein Schluck zu heißen Tees. Sie haben die Fragen angerührt, warum ich etwas mache, wo die Motivation liegt.
Liegt sie draußen, weil ich der Jurist werden will, den Großvater und Papa gerne sehen würden, oder ist es mein eigener Wunsch, der sehr, sehr viel schwerer wiegt. Der Austausch zwischen Louis und mir ist ein sehr unbefangener, ich weiß was ihn in der Seele bewegt. Er weiß es bei mir.
Keiner meiner Freunde steht mir näher. Ich kann es nicht leugnen, dass er mir erst etwas befremdlich vorkam. Es war wie an einer Stelle in „Der Kleine Prinz“, ein Buch das wir beide kannten. Es ist die Stelle an der sich der kleine Prinz und der Fuchs zum ersten Mal begegnen. Die Sprache sei die Quelle der Missverständnisse, kann es sein, dass Louis und ich deshalb damals unsere Vorurteile für uns behielten, als wir uns auf dem Balkon trafen?
Ich will dir etwas über die Verrücktheit des Lebens schreiben, über die Zufälle, bei denen sich selbst Gott nachdenklich an der Stirn kratzen würde, wenn es ihn gibt und Er (oder Sie?) nicht auf Dauerurlaub ist. Es sind die Situationen in denen uns das Gute widerfährt, jemand uns anlächelt oder uns die Liebe das Herz puckern lässt. Es ist das Banale des Lebens. Die Würze unserer Existenz. Ich meine gute Zufälle, die uns innerlich froh machen, die unsere Seele wärmen; was den zufälligen Blick des Lehrers schon ausschließt, während wir gerade anteilnehmen, am Klausurwissen des Nachbarn. Das schließt auch Fettnäpfchen und Fritteusen Sprünge aus, die ganzen Jauchebäder, die das Leben so bereit hält.
Wie kann ich bei meinen Kindern dafür sorgen, dass sie keine verbitterten Menschen werden, die in einer Diktatur dafür sorgen, dass dem „Recht“ Geltung verschafft wird? Wahrscheinlich am ehesten dadurch, dass ich ihnen meine Liebe zum Leben vorlebe. Das schließt nicht aus, dass es hin und wieder gehörig „Scheiße laufen kann“, wie Louis sagen würde. Ich glaube dass ich meine Kinder am Leben von Louis teilhaben lassen würde, dass ihnen so ein austarieren gelingen würde. Alle Menschen wollen Sicherheit in ihrem Leben und mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen, der ihnen die Welt bedeutet. Louis hat etwas von dem weitergegeben, was ich als Elixier des Lebens bezeichnen würde. Er teilt seine Freundschaft mit mir.
Wir tangieren so viele Leben anderer Menschen, aber wir schreiben zu wenig darüber, weil wir keine Zeit haben oder weil uns diese Begegnungen egal sind, und wir im Trott des Lebens schwimmen.
Wir verlieren im Laufe unseres Lebens die Fähigkeit uns zu wundern. Das sehe ich heute so. Wie Einsiedlerkrebse rasen viele durch ihre Leben, die so einzigartig und schön sind, immer auf der Suche nach einem neuen Gehäuse in das sie sich zwängen können. Wenn ich an das Wunderbare glaube, dann bin ich kein Idiot, sondern ein Mensch der dem Leben zugewandt ist. Louis und ich haben neben allem was wir als Freunde taten nie vergessen, was Antoine de Saint Exupéry, uns durch seinen Protagonisten mitzuteilen versuchte, denen die es hören wollten. Wir stapften gemeinsam über mückenschwirrende Pfade in Panama, schliefen in kargen Hostels und aßen Pfannkuchen mit Sirup und frischen Bananenstücken. Louis und ich rannten durch den TGV in Frankreich, als in einem Wagen ein medizinischer Notfall aufgetreten war und aus dem Lautsprecher, mehrmals eindringlich, der Ruf nach Hilfe plärrte. Da knieten wir zwei zwischen den Sitzreihen und bemühten uns, dass das Herz einer alten Dame wieder schlug. Uns rann der Schweiß, daran erinnere ich mich. Im Waggon herrschte fast eine raumfüllende Stille, nur eine Frau betete halblaut.
Neben unserem ehrenamtlichen Tun in unserer Freizeit half uns, dass die Franzosen in ihrem Schnellzug einen automatischen Defibrillator und einen gut ausgestatteten Notfallrucksack vorhielten. Was könnte der schönere Beginn einer langen Wandertour sein, als das Retten eines Lebens?
Wir versprachen uns gegenseitig, dass wir unseren Kindern voneinander erzählen wollten, hatten ja schon geplant, dass wir sie beim anderen in den Ferien parken würden. Dass unsere Freundschaft sehr schwer wog, dass wussten wir. Es gab damals keine Kristallkugel in die wir hätten sehen wollen, was uns die Zukunft bringt. Wir schlürften das Leben in vollen Zügen, standen am Beginn unseres Studentenlebens. Mehr oder minder zerrieben wir uns in unserem Studium. Ich paukte Paragraphen und Prüfschemata für juristische Sachverhalte, saß spätnachts in der Unibibliothek. Mein Kopf war zum Bersten gefüllt mit Worthülsen und Beamtendeutsch. Louis versackte hinter seinen Anatomiebüchern und drückte sich kleinste Nervenfasern durch die rot-müden Augen ins Gedächtnis. Es gelang uns ein kleines Stückchen Himmel über uns freizuhalten, was wir für Unternehmungen nutzen konnten.
Es war eine Zeit des Umbruchs, in der meine Freundin abhandenkam. Sie verliebte sich in jemand anderen, und trat mich in einen endlosen Abgrund. Ich heulte Rotz und Wasser, verfluchte die Welt und mich. Der Wunsch kam in mir auf, dass ich einfach auf dem Bett liegenbleiben wollte, um nie wieder auf zu stehen. Meine Welt war aus den Angeln gekippt. Ich schwebte schwerelos im Raum. Das Ende dieser Liebe hatte alles vertauscht, oben war unten und umgekehrt. Louis war es, der neben meinem Bett auftauchte, ungefragt. „Vincemann“, sagte er. „Vincemann, du verkommst zum Schluri!“, blitzschnell packte er den Schlafsack auf dem ich lag und zog daran, blitzschnell. Ich fiel krachend auf den Holzboden. „Scheiße!“, fluchte ich, dann rappelte ich mich langsam auf. Das war Ermunterung und Lektion in einem gewesen, wie Louis mir zeigte, wie man Wirrnissen im Leben begegnen kann. Hinfallen und wieder aufstehen!
Ich habe meinem Freund versprochen, dass ich die zu schreibende Geschichte einem Menschen geben werde, von dem ich vermute dass er die Berg und Talfahrten des Lebens kennt. Vielleicht jemand, der wie wir, den kleinen Prinzen kennt. Ich weiß nicht wie dein Verhalten auf Parties ist. Du kennst bestimmt die süße Bitterkeit des Lebens, all seine bunten Facetten. Die kleinen und großen Aufreger. Kann sein dass du manches in der Welt mit den Augen des kleinen Prinzen zu sehen versuchst. Du lachst lieber, anstatt zu weinen, wobei dir der salzig brennende Geschmack kalter Tränen nicht unbekannt ist? Dann lohnt sich meine Mühe des Tippens und Louis lacht. Dann hast du den Großteil des Textes schon hinter dir, und ich will dir noch was über ein Wunder schreiben, über eine seltsame Begebenheit.
Sie hat mit einem noch größeren Schmerz zu tun, als ich ihn bis zu diesem Tag erlebt hatte. Fast zehn Jahre sind seitdem vergangen. Ich fiel in tiefste Nacht mitten an einem Augusttag, um 16:03 Uhr. Ich sehe noch das Handydisplay neben mir blinken. Es war genau sechszehn Uhr und drei Minuten. Ein Anruf aus Frankreich. Die gesamte Mischung aus diesen Gefühlen hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Jedes Mal erinnert mich der Blick auf die Karte daran, die Louis von seiner Motorradfahrt durch die Provence schickte. Vorne lachen die schönsten Flecken des Landes und auf der Rückseite ist die leicht gehetzte Handschrift des Freundes. Wir waren ein Jahr zuvor noch dort gewesen, zum siebten Mal. Wir zelebrierten unser Ritual: am Strand sitzen und Baguette mit würzigem Käse essen, dazu schweren Rotwein und das gute Gefühl, dass wir diesen schönen Moment mit einem Menschen teilten, den jeder gerne mochte.
Das war also einer dieser Augenblicke von denen mir Frau Mölters immer, als Kind sagte: „Männeken, watt is datt Leben watt fein!“, dann verlor sie sich mit dem roten Staubsauger irgendwo in unserem Haus. Von ihr ließ sich Papa sogar in ihrer verschmitzten Art sagen, dass er die Krawatte wechseln sollte, wenn es in seinem Sinne wäre, dass die Bäume ihrer Blätter behielten, wenn er aus der schmiedeeisernen Tor trat. Sie war die gute Seele die Mama bei der Hausarbeit unterstützte und ich halte auch heute noch große Stücke auf die Frau. Die Frau mit ihren blauen Latschen war immer umgeben von einer dezenten Wolke kölnisch Wasser Geruchs. Bei einem Gartenfest meiner Eltern kam sie in einem geblümten Kleid und brachte als Präsent einen Strauß lila Blumen mit. „Sehr unpassend gekleidet“, wie Opa meinte. „Ich freue mich, dass Frau Mölters mit uns feiert“, entgegnete Mama, in ihrem dunklen Kleid mit der schönen Schleife. Mama trug die Haare in einer Steckfrisur, was sie noch schöner aussehen ließ, mit ihren dunkelblonden Haaren und ihren ruhigen grünen Augen. Ich stimmt Mama freudig zu und griff wie zum Beweis nach der kräftigen Hand von Frau Mölters.
Ich schreibe dir das mit der guten Frau Mölters, damit du dir ein Bild machen kannst, wie wichtig sie mir war. Sodass ich auch, lange nach meiner Kindheit an sie dachte. Es war ungefähr ein knappes Jahr vor dem verhängnisvollen Tag im August, als Louis und ich unsere Wanderschuhe auszogen. Wir waren mehr als vier Stunden stramm gewandert und gönnten uns eine längere Pause. Wir saßen an einer schmalen Bergstraße in einer kleinen Hütte, drinnen stand ein wackliger Holztisch und irgendwer hatte seine Wanderkarte hier vergessen. Rings um lag die Landschaft unter einer leicht nebligen Decke, nein, eher ein Flimmern, wie über heißem Asphalt nur dichter. Wir wünschten uns eine Dusche herbei. Die T-Shirts klebten unangenehm am Rücken. Bei jeder Bewegung zog es im Körper. In der Phase der Entspannung schnitt Louis mit der Schere seine Multitools ein Stück gelbes Band ab, das er im Rucksack fand. „Sieht aus wie der Schal den der kleine Prinz trägt“, witzelte er, dann schnitt er noch ein Dreieck aus dem Band heraus. Wir lachten beide als wir in meinem Buch guckten, dass ich immer mit auf unsere Touren nahm. Die kleine, gebundene Ausgabe von dem begeisterten Piloten, dessen kleiner Prinz jemand ein Schaf zeichnen lässt. Dieser kleine Prinz der sich so um seine Rose sorgt.
Louis hatte die Idee gehabt, dass wir mein Buch mit einer Widmung versehen in der Hütte deponieren könnten. Wäre es so unmöglich dass sich ein anderer Mensch darüber freuen könnte? Du kommst total müde in eine alte Hütte und findest ein Buch, eingepackt in einer Gefriertüte. Gesagt getan. Das war alles vor diesem verdammten August gewesen.
Ein Jahr nach der stillstehenden Uhrzeit 16:03, saß ich im wieder mal im Zug in den Süden der Grande Nation.
Draußen war Sommer und mir das Herz schwer. Ich saß im Zugabteil, mir schräg gegenüber, eine junge Frau. Ich schätzte sie etwas jünger als ich. Sie schlief. Wir hatten uns kurz begrüßt, als sie ins Abteil kam und einen Rucksack nach oben wuchtete. Eine zierliche Wanderin, die ausgiebig gegähnt hatte. Ihre Augen hatten eine Spur Türkis in ihrem Blau. Die Augenbrauen waren zart geschwungen, das fiel mir an ihr auf. Und sie hatte Grübchen am Kinn, wenn sie lachte. Sie kam auch aus Deutschland, war aber schon länger unterwegs gewesen als ich. Ich erfuhr dass sie Studentin sei, und in die Provence fahre, weil sie dort abschalten könne, das Essen und den Wein dort liebe, und auf der Suche nach etwas sei. Dann erzählte ich ihr, dass es mich immer wieder an diesen Ort zöge, um etwas nicht zu vergessen.
Da nickte sie neugierig und ihre Ohrringe klimperten. Ihre Lippen umspielte ein zögerndes Lachen, dann wurde ihr Blick ernst und sie schwieg. Leere Bahnhöfe rasten vorbei, der Zug holperte über Brücken, einmal stoppte er abrupt; entschloss sich aber nach einer halben Ewigkeit ruckelnd wieder Fahrt auf zu nehmen. Wehmütig dachte ich im Schlaf an Wein und Käse, etwas weckte mich auf, einfach so.
Ich schlug die Augen auf, starrte Lea-Marie an, so hieß sie. Ungläubig legte sie das Buch neben sich, in dem sie gerade las. Strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und beugte sich in meine Richtung. Mir wurde heiß-kalt, ein Schauer umfloss mein Herz. Ich schlug die Hände vor mein Gesicht, und merkte wie mich die dunkelblonde mit einer Mischung aus Skepsis und Verwirrung beobachtete. Mir war es peinlich, dass ich weinte. Ich hörte Louis mit seiner tiefen Stimme in meiner Erinnerung reden, und sprach es aus:
„Lo más importante no se ve con ojos sino con el corazón.”
Lea-Maries Blick fixierte mich zögernd, als sie tastend nach ihrem Buch griff. Dann pendelten ihre schönen Augen zwischen dem geöffneten Buch und meinen Augen hin und her.
Sie wusste nicht was sie davon halten sollte, von der gehetzten Handschrift und meiner Rezitation. Vorne im Buchdeckel stehen zwei Namen prophezeite ich: Vince und Louis. Einer mit blauer Tinte geschrieben, der andere mit einem grünen Filzliner, wie das Zitat. „Nein“, hauchte sie und streckte mir das Buch entgegen. Ich berührte das abgegriffene Buchcover wie einen gerade geborgenen Schatz, hielt es sanft wie ein Baby in meinen Händen. Ich war gerührt und ließ meine Tränen fließen. Ich biss mir auf die Unterlippe als ich las: Vince und Louis und Lea-Marie. Drei Namen, der letzte mit schwarzem Kuli geschrieben. Immer noch völlig überrascht hatte Lea-Marie ihre Hände an ihre Wangen gelegt und sagte mehrmals „Puh!“ und „Ich fasse es nicht!“
Auf mehreren Seiten hatte ich eigene Gedanken über die Freundschaft und über die Liebe aufgeschrieben. Randnotizen aus der Vergangenheit. Es sind Blitzlichter meiner Gedanken und Gefühle. Das Buch habe ich mit meinem eigenen Leben gefüllt. Ich habe an die Verrücktheit des Lebens geglaubt, nachdem ich einen Freund traf. Ich bin weder besser noch schlechter, weil ich Louis kennen lernen durfte, aber ich bin reicher. Reicher an Erfahrungen und Erinnerungen in meinem Herzen, und darauf kommt es an in unserem Leben. Darauf, und dass wir nicht nur an Wunder im Leben glauben, sondern dass wir sie möglich werden lassen.
EPILOG:
Fünfzehn Jahre sind vergangen seit mich Lea-Marie gefunden hat. Elf seit ich Louis in der engen Serpentine verloren habe. Wir reisen in einer Höhe von ca. 10.000 Metern, was in etwa 32.808 Fuß entspricht. Unter uns liegt eines der Weltmeere, und bald werden wir in Deutschland landen. Unsere Familien freuen sich auf uns, sehen sie uns doch jetzt sehr viel weniger. Mein Opa hat sich mit der Tatsache ausgesöhnt, dass ich Rechtlosen in einem fernen Land zu ihrem Recht verhelfe. Meine beste Freundin stärkt mir den Rücken und berät eine große Hilfsorganisation als Ärztin. Wir werden mit dem Zug in die Provence weiterfahren, uns dort einen Mietwagen nehmen und in einem urigen Hotel wohnen. Lea-Marie und ich werden bei einem Glas Wein wieder in dem abgegriffenen Buch lesen. Wir werden Käse und Melonenstücke genießen. Und wir gehen einem alten Freund von mir „Hallo“ sagen, der neben seinen Großeltern auf einem kleinen Hügel beerdigt wurde. Rechts von ihm steht eine krumme Eiche. In der Luft hängt der Duft nach Hochsommer und die Zikaden zirpen. Heute werde ich dem Freund leise sagen können:
„Deine Geschichte ist fertig und verschickt! Lea-Marie und ich haben in unserem Buch gelesen. Du fehlst mir immer noch, aber ich bin verdammt froh dass du in mein Leben gerannt bist, damals auf dem Balkon. Du weißt schon? Und weißt du was!? Dir entgeht was, so richtig viel mein Freund, weil ich sie dir nicht hierlassen kann…“
Über uns hängt der Duft nach Lavendel und staubigem Boden. Leise lässt der warme Wind die Eichenblätter tanzen. Unsere Kinder toben durchs Gras, bevor wir sie in den Wagen scheuchen. Ich küsse Lea-Marie ganz sanft. Schnell verliert sich das Auto auf der kurvigen Straße. Die Luft flirrt unter der Sonne. À bientôt Provence!
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Küstentreffen [2]
manolo ramon, 20:26h
Schon bald hatte Mentos bereut, dass er das nicht uneigennützige Angebot des Taxifahrers abgelehnt hatte, ihn zum Hotel zu bringen. Trotz des regnerischen Wetters begann er in seinem Dufflecoat zu schwitzen. Das Gepäck machte den Gang durch den Park auch nicht angenehmer.
Spontan hatte sich Mentos entschieden, dass er zwei Tage in einer kleinen Pension bleiben wollte, Der Graf rechnete erst übermorgen mit seiner Ankunft.
So blieb noch etwas Zeit den Zauber der Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Die verflossene Zeit, die wie ein Kaugummi unter der Schuhsohle, als blinder Passagier mit in das heutige Leben reist.
Ein Schild wies die Richtung der Pension an, leider ohne Streckenangabe.
Mentos ließ eine gebückte, alte Frau passieren, die ihren leise winselnden Vierbeiner Gassi führte.
Er schenkte den beiden ein müdes Lächeln.
Der nasse Wind trug das Allegro der Frauchen – zu – Hund – Unterhaltung mit sich fort.
Noch wenige Meter trennten den großen Mann vom Seitentor in der bemoosten Parkmauer.
Langsam begann sich in ihm die Neugierde zu regen, weshalb der Jüngere Freund ihn so dringend hier oben am Meer brauchte.
Die Tinte schien von hektischer Hand zu Papier gebracht worden. In den Zeilen hatten sich mehrere Flüchtigkeitsfehler versteckt.
Das war sonst nicht die Art des Grafen, überhaupt nicht. Seine Briefe hatten immer etwas Ästhetisches. Obwohl der hier lebende keinen Adelstitel trug, war wenigstens seine Handschrift die eines Menschen, durch den blaues Blut floss. So sah es jedenfalls Mentos.
Am Ausgang des Parks angelte er sich eine Zigarette aus der Manteltasche. Knisternd machte sich wohlige Entspannung breit. In der Lendenwirbelsäule zog etwas schmerzend. Das Alter, bin nicht mehr der Jüngste, dachte er still.
Die kleine Pension lag direkt vis - à - vis. Ein leckerer Kaffee würde ihm jetzt gut tun. Gedankenversunken beobachtete er die Choreografie der tanzenden Herbstblätter. Sie wirbelten in einem bunten Strudel über den feuchten Asphalt. Das Rascheln lag in seinen Ohren.
Ungesehen nährte sich ein junges Mädchen auf ihrem Rad. Sie fuhr an dem Raucher vorbei und verschwand hinter parkenden Autos.
An einem anderen Tag wären seine Blicke sicher ihren wehenden Haaren gefolgt. Aber nicht hier und heute.
In Mentos fiel ein eisiger Regen. Er stand wie ein Monolith zwischen seinem Gepäck.
Etwas schoss wie ein Squashball durch seine kantige Schädelhöhle, raste glühend durch sein Gehirn. Übelkeit überkam ihn, und eine Leere. Ein Nichts, das sich dem Körper zu bemächtigen schien.
Blätter die Rascheln und das Surren der Speichen. Pedale die klacken, klacken, klacken, klacken und klacken.
Angetrieben von einer unbekannten Macht, dazu Regen, eisige Tropfen.
Peitschenschläge in die Augen und ein glühender Stab der sich langsam durch Trommelfell, Gehirn und Trommelfell bohrte. Ein Tsunami der Angst.
In Wirklichkeit Regen und Fahrradgeräusche.
Mentos zuckte zusammen, die Kippe war bis zu seinen Fingern abgebrannt. Er warf sie in den Rinnstein.
Er nahm sich vor dem Rat einer alten Schulfreundin zu folgen, ihres Zeichens Psychologin, früher eine ausgeflippte Hippietante.
„Du bist gestresst! – Gönne dir mal eine Pause, ehrlich!“, sie hatte es ernst gemeint. Mentos hatte genickt und Besserung gelobt, dann hatte er das Gespräch in sicheres Fahrwasser gelenkt.
Sie saßen dort schließlich nicht in einer Praxis, sondern bei ihrem Lieblingsitaliener.
Mentos war schon immer voller Vorfreude, wenn ihr Treffen im Kalender näher rückte.
„Cédric, ich meine das ernst. Irgendwas ist doch mit dir!?“, Elisa sah besorgt aus. Er kannte ihre Mine, diesen Forschungsdrang in ihren Augen. Eine einzelne graue Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht.
Sie blies sie weg. Cédric, sie war die Einzige die ihn so nannte.
Komischerweise, denn so hieß er doch.
Luisa und die elegante Frau auf der anderen Tischseite ähnelten einander schon.
Unter der rosa Bluse ruhten diese beiden bezaubernden Wölbungen, die seine anfänglich verschwitzten Finger so oft liebkost hatten.
Zitternd hatten sie beide die Wonnen und Feuerwerke der Liebe miteinander entdeckt und erlebt, sich gegenseitig ertastend und führend.
Elisa raunte im leise zu: „Weiß deine Frau, dass du anderen Frauen auf den Busen starrst, wie ein verklemmter Operprimaner, Mhm!?“
Ertappt hatte er den Blick gehoben und in ihre Augen gesehen. Sie hatte immer noch diese Grübchen, wenn sie lachte. Beide hatten geschmunzelt.
Peinliche Stille war nicht aufgekommen. „Ihr Jungs werdet wahrscheinlich nie erwachsen? Ihr denkt immer nur an das eine!“, feixte sie.
Sie hatten einen schönen Abend verbracht. Vielleicht sollte er sie einmal um fachlichen Rat fragen?
Mit grober Kraft nahm Mentos sein Gepäck auf und überquerte die Straße. Die Person in dem alten Volvo hatte er nicht bemerkt. Als die Tür der Pension ins Schloss gefallen war, glitt das Fahrzeug ungesehen aus der Parklücke und verlor sich im Verkehrsfluss. Die Musik von Chopin wurde lautergedreht, ein Feuerzeug klickte. Tabakduft waberte durchs Auto.
Auf dem Tisch eines Hauses klingelte ein Telefon.
Der Anrufer wurde nervös. Die Nummer musste stimmen. Endlich wurde abgehoben. Die Verbindung war sehr schlecht, es rauschte in der Leitung. Im Hintergrund schrie ein Papagei.
„Hören Sie! Sind Sie sich ganz sicher!?“, vergewisserte sich jemand knapp und herrisch auf Französisch. Die Kälte und Tonlage, die durch die Leitung klangen, duldeten kein „Nein!“ als Antwort.
Auf dem Marmorboden zerbarst ein Weinglas. Das Klirren hallte durch die Freisprecheinrichtung.
Unwillkürlich beschleunigte das alte Fahrzeug.
„Ich will, ich werde...ich bitte Sie, dass...!“, stammelte ein Mensch ohne jegliche Hoffnung. Die Finger krallenartig um das Lenkrad geklammert. Momente in denen sich blinde Wut breit macht, und Menschen zu Bestien und Mördern werden könnten, Menschen, die...
Das Auto überfuhr eine rote Ampel, viel zu schnell.
„Sie wählen doch im Leben, oder!? Sie können immer wählen, habe ich recht!?“ Das konnte jetzt nur ein zynischer Sadist sagen, ein Mensch der nie ein Herz oder Gefühle gehabt hatte.
Ein Schwein das lebendig gebraten gehörte, während man ihm das Rückenmark mit einer Pinzette aus dem Wirbelkanal zog. Oh Gott, oh Gott!! – Am Telefon war ein solches Schwein, ein Zwitterwesen aus Scheiße und allem Übel dieser Welt.
Raumfüllendes Schweigen machte sich breit. Der Angerufene legte wortlos auf.
Auf der Kreuzung wendete mit einem Quietschen ein Auto, holte auf und setzte sich dicht an den Kofferraum.
Blaues Stroboskoplicht blitzte auf. Der Lautsprecher plärrte laut:
„Polizei! Rechts ranfahren!“
Mentos hätte besser noch eine zweite Tasse Kaffee getrunken, und sich dann ausgeruht. Aber er trat nach kurzer Zeit noch mal hinaus ins Dunkel der kleinen Hafenstadt, ohne bestimmtes Ziel. Sein Gepäck hatte er auch noch nicht ausgepackt. Er wollte sich die Müdigkeit vertreiben, etwas essen- gehen. Das Schicksal hatte Mentos aber schon fest im Visier, aus dem Fadenkreuz gab es kein entkommen mehr, hatte es auch nie gegeben...
Spontan hatte sich Mentos entschieden, dass er zwei Tage in einer kleinen Pension bleiben wollte, Der Graf rechnete erst übermorgen mit seiner Ankunft.
So blieb noch etwas Zeit den Zauber der Vergangenheit wieder aufleben zu lassen. Die verflossene Zeit, die wie ein Kaugummi unter der Schuhsohle, als blinder Passagier mit in das heutige Leben reist.
Ein Schild wies die Richtung der Pension an, leider ohne Streckenangabe.
Mentos ließ eine gebückte, alte Frau passieren, die ihren leise winselnden Vierbeiner Gassi führte.
Er schenkte den beiden ein müdes Lächeln.
Der nasse Wind trug das Allegro der Frauchen – zu – Hund – Unterhaltung mit sich fort.
Noch wenige Meter trennten den großen Mann vom Seitentor in der bemoosten Parkmauer.
Langsam begann sich in ihm die Neugierde zu regen, weshalb der Jüngere Freund ihn so dringend hier oben am Meer brauchte.
Die Tinte schien von hektischer Hand zu Papier gebracht worden. In den Zeilen hatten sich mehrere Flüchtigkeitsfehler versteckt.
Das war sonst nicht die Art des Grafen, überhaupt nicht. Seine Briefe hatten immer etwas Ästhetisches. Obwohl der hier lebende keinen Adelstitel trug, war wenigstens seine Handschrift die eines Menschen, durch den blaues Blut floss. So sah es jedenfalls Mentos.
Am Ausgang des Parks angelte er sich eine Zigarette aus der Manteltasche. Knisternd machte sich wohlige Entspannung breit. In der Lendenwirbelsäule zog etwas schmerzend. Das Alter, bin nicht mehr der Jüngste, dachte er still.
Die kleine Pension lag direkt vis - à - vis. Ein leckerer Kaffee würde ihm jetzt gut tun. Gedankenversunken beobachtete er die Choreografie der tanzenden Herbstblätter. Sie wirbelten in einem bunten Strudel über den feuchten Asphalt. Das Rascheln lag in seinen Ohren.
Ungesehen nährte sich ein junges Mädchen auf ihrem Rad. Sie fuhr an dem Raucher vorbei und verschwand hinter parkenden Autos.
An einem anderen Tag wären seine Blicke sicher ihren wehenden Haaren gefolgt. Aber nicht hier und heute.
In Mentos fiel ein eisiger Regen. Er stand wie ein Monolith zwischen seinem Gepäck.
Etwas schoss wie ein Squashball durch seine kantige Schädelhöhle, raste glühend durch sein Gehirn. Übelkeit überkam ihn, und eine Leere. Ein Nichts, das sich dem Körper zu bemächtigen schien.
Blätter die Rascheln und das Surren der Speichen. Pedale die klacken, klacken, klacken, klacken und klacken.
Angetrieben von einer unbekannten Macht, dazu Regen, eisige Tropfen.
Peitschenschläge in die Augen und ein glühender Stab der sich langsam durch Trommelfell, Gehirn und Trommelfell bohrte. Ein Tsunami der Angst.
In Wirklichkeit Regen und Fahrradgeräusche.
Mentos zuckte zusammen, die Kippe war bis zu seinen Fingern abgebrannt. Er warf sie in den Rinnstein.
Er nahm sich vor dem Rat einer alten Schulfreundin zu folgen, ihres Zeichens Psychologin, früher eine ausgeflippte Hippietante.
„Du bist gestresst! – Gönne dir mal eine Pause, ehrlich!“, sie hatte es ernst gemeint. Mentos hatte genickt und Besserung gelobt, dann hatte er das Gespräch in sicheres Fahrwasser gelenkt.
Sie saßen dort schließlich nicht in einer Praxis, sondern bei ihrem Lieblingsitaliener.
Mentos war schon immer voller Vorfreude, wenn ihr Treffen im Kalender näher rückte.
„Cédric, ich meine das ernst. Irgendwas ist doch mit dir!?“, Elisa sah besorgt aus. Er kannte ihre Mine, diesen Forschungsdrang in ihren Augen. Eine einzelne graue Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht.
Sie blies sie weg. Cédric, sie war die Einzige die ihn so nannte.
Komischerweise, denn so hieß er doch.
Luisa und die elegante Frau auf der anderen Tischseite ähnelten einander schon.
Unter der rosa Bluse ruhten diese beiden bezaubernden Wölbungen, die seine anfänglich verschwitzten Finger so oft liebkost hatten.
Zitternd hatten sie beide die Wonnen und Feuerwerke der Liebe miteinander entdeckt und erlebt, sich gegenseitig ertastend und führend.
Elisa raunte im leise zu: „Weiß deine Frau, dass du anderen Frauen auf den Busen starrst, wie ein verklemmter Operprimaner, Mhm!?“
Ertappt hatte er den Blick gehoben und in ihre Augen gesehen. Sie hatte immer noch diese Grübchen, wenn sie lachte. Beide hatten geschmunzelt.
Peinliche Stille war nicht aufgekommen. „Ihr Jungs werdet wahrscheinlich nie erwachsen? Ihr denkt immer nur an das eine!“, feixte sie.
Sie hatten einen schönen Abend verbracht. Vielleicht sollte er sie einmal um fachlichen Rat fragen?
Mit grober Kraft nahm Mentos sein Gepäck auf und überquerte die Straße. Die Person in dem alten Volvo hatte er nicht bemerkt. Als die Tür der Pension ins Schloss gefallen war, glitt das Fahrzeug ungesehen aus der Parklücke und verlor sich im Verkehrsfluss. Die Musik von Chopin wurde lautergedreht, ein Feuerzeug klickte. Tabakduft waberte durchs Auto.
Auf dem Tisch eines Hauses klingelte ein Telefon.
Der Anrufer wurde nervös. Die Nummer musste stimmen. Endlich wurde abgehoben. Die Verbindung war sehr schlecht, es rauschte in der Leitung. Im Hintergrund schrie ein Papagei.
„Hören Sie! Sind Sie sich ganz sicher!?“, vergewisserte sich jemand knapp und herrisch auf Französisch. Die Kälte und Tonlage, die durch die Leitung klangen, duldeten kein „Nein!“ als Antwort.
Auf dem Marmorboden zerbarst ein Weinglas. Das Klirren hallte durch die Freisprecheinrichtung.
Unwillkürlich beschleunigte das alte Fahrzeug.
„Ich will, ich werde...ich bitte Sie, dass...!“, stammelte ein Mensch ohne jegliche Hoffnung. Die Finger krallenartig um das Lenkrad geklammert. Momente in denen sich blinde Wut breit macht, und Menschen zu Bestien und Mördern werden könnten, Menschen, die...
Das Auto überfuhr eine rote Ampel, viel zu schnell.
„Sie wählen doch im Leben, oder!? Sie können immer wählen, habe ich recht!?“ Das konnte jetzt nur ein zynischer Sadist sagen, ein Mensch der nie ein Herz oder Gefühle gehabt hatte.
Ein Schwein das lebendig gebraten gehörte, während man ihm das Rückenmark mit einer Pinzette aus dem Wirbelkanal zog. Oh Gott, oh Gott!! – Am Telefon war ein solches Schwein, ein Zwitterwesen aus Scheiße und allem Übel dieser Welt.
Raumfüllendes Schweigen machte sich breit. Der Angerufene legte wortlos auf.
Auf der Kreuzung wendete mit einem Quietschen ein Auto, holte auf und setzte sich dicht an den Kofferraum.
Blaues Stroboskoplicht blitzte auf. Der Lautsprecher plärrte laut:
„Polizei! Rechts ranfahren!“
Mentos hätte besser noch eine zweite Tasse Kaffee getrunken, und sich dann ausgeruht. Aber er trat nach kurzer Zeit noch mal hinaus ins Dunkel der kleinen Hafenstadt, ohne bestimmtes Ziel. Sein Gepäck hatte er auch noch nicht ausgepackt. Er wollte sich die Müdigkeit vertreiben, etwas essen- gehen. Das Schicksal hatte Mentos aber schon fest im Visier, aus dem Fadenkreuz gab es kein entkommen mehr, hatte es auch nie gegeben...
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